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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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versetzten mir einen Stich. Natürlich war es so, und natürlich wusste ich es. Aber wenn ich in eine Kirche gegangen war, um eine Messe zu bestellen, hatte ich dies für Maria getan. Wenn ich eine Kerze aufgestellt hatte, um für die Seele des Kindes zu bitten, hatte ich in Wahrheit für Maria gebeten. Wenn ich an meinen Verlust dachte, dachte ich an Maria. Wenn ich mich an die Gräber hinter meinem Hof in Landshut erinnerte, sah ich Marias Grab vor mir und nicht den traurigen kleinen Erdhügel gleich daneben.
    Meine Kehle schmerzte plötzlich zu sehr, als dass ich etwas hätte sagen können. Wenn ich an mein totes viertes Kind dachte, konnte ich nicht einmal an einen Namen denken; ich hatte ihm nie einen gegeben. Es war ein stilles, gewichtsloses Bündel in meinen gefühllosen Händen, ein rotes, zur Seite gefallenes Köpfchen, das mit verkniffenen Augen und einem kleinen offen stehenden Mündchen aus den verschmierten Leintüchern ragte, ein Menschenpüppchen, das nach Blut und Tod roch und gestorben war, kurz bevor es ins Leben kriechen konnte. Es hatte keinen Namen. Es hatte auch kein Geschlecht. Ich hatte nie erfahren, ob mein viertes Kind ein Mädchen oder ein Junge gewesen war.
    »Hast du jemals darum geweint?«, fragte Jana.
    Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte immer nur um Maria geweint. Ich hatte immer nur um mich geweint.
    »Es passiert oft, dass man ein Kind während der ersten Wochen verliert«, sagte Jana heiser. »Es hätte wahrscheinlich niemals gelebt. Etwas war von Anfang an falsch.«
    »Nenn es beim Namen«, flüsterte ich und sah den Schmerz, den ich ihr mit diesen Worten bereitete. Sie begann erneut zu weinen. Ich konnte nicht anders. »Nenn es beim Namen.«
    »Peter, was denn sonst?«, schluchzte sie. »Und wenn es ein Mädchen gewesen wäre: Maria.«
    Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Haar und begann ebenfalls zu weinen. Janas kraftlose Hände streichelten über meinen Rücken.
    »Ich liebe dich«, stieß ich hervor, »und ich bedauere es so sehr, dass ich dir wehgetan habe. Ich bedaure so sehr, dass du diesen Schmerz ertragen musst.«
    »Es ist unser beider Schmerz.«
    »Das macht ihn nicht leichter.«
    »Es passiert einfach«, sagte sie nach einer Weile. »Es passiert in den ersten Schwangerschaftswochen, während der Geburt, in den ersten Lebensjahren … eine Verletzung, eine Krankheit, eine Seuche, ein Unfall beim Spielen, eine Hungersnot … diese kleinen Leben sind so zart und verletzlich und so kostbar … und Gott blickt auf die Welt hinunter und sieht, wie wenig wir dieses kostbare Geschenk schätzen, und nimmt es uns manchmal weg, weil er es selbst nicht mehr erträgt.«
    Sie streichelte weiter meinen Rücken.
    »Wir schicken die Kräuterfrauen an den Galgen, wenn sie eine Schwangerschaft beenden helfen, und auf den Scheiterhaufen, wenn sie eine Todgeweihte bei der Geburt retten können; wir verstoßen die Frauen, die ein Kind empfangen, ohne dass ein aufgeblasener Pfaffe seinen Segen dazu gesprochen hätte; wir stecken die elternlosen Waisen in ein Kloster, anstatt ihnen neue Eltern zu suchen; wir geben den verwahrlosten Gassenkindern Rutenhiebe anstatt eines Zuhauses; und wir benutzen unsere eigenen Kinder, um unsere Träume zu erzwingen, statt ihre eigenen Gestalt werden zu lassen. Gott hat Recht, wenn er uns straft.«
    »Gott straft uns nicht«, sagte ich leise. »Er lässt es nur zu, dass wir uns selbst strafen.«
    Jana richtete sich auf. Sie schwankte in meinem Griff, und ich ließ sie vorsichtig zurücksinken. Als sie auf ihrem Kissen lag, packte ich einen Zipfel der Bettdecke und rieb damit über ihre Wangen. Ein Lächeln huschte über ihre Züge. Sie hob eine eiskalte Hand und wischte mir über die Augen.
    »Haben wir uns selbst gestraft?«, flüsterte sie kraftlos.
    Ihre Augen schlossen sich, und ihr Kopf sank zur Seite. Ich hielt ihre schlaffe kalte Hand.
    »Jeden Tag«, sagte ich, und die Tränen strömten aufs Neue aus meinen Augen. »Jeden Tag, an dem wir uns nicht liebten.«
    Ich saß noch lange an ihrem Bett. Fiuzetta kam herein, zupfte die Decke zurecht und ging wieder, und Julia kam wortlos und blass herein und holte die erkaltete Suppe ab. Ich hielt immer noch Janas Hand, ohne mir dessen bewusst zu sein, und sah auf ihr Gesicht hinunter, dessen Züge mir in den letzten drei Jahren vertrauter geworden waren als meine eigenen: die fein geschwungenen Brauen über den dichten, dunklen Wimpern, ihre kecke Nase, über die sie stets lamentierte, sie sei zu groß; ihre

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