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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Minuten in einheitlichem Drecksgrau, in geliehenen Bata- und Germina-Schuhen (mit neun Stollen hinten) wie aufgescheuchte Wasserrallen hin und her platschten, während der Ball, eine handgefertigte Lederkugel, deren Nähte vor und nach den Spielen einzufetten waren und von einer mit Nadelventil-Ballpumpe belüfteten Gummiblase gestrafft wurden, widerspenstig und vollgesogen im Matsch klebenblieb, obwohl wir stürmten, was das Zeug hielt. – Grosics, Czibor, Puskás, Kocsis, Hidegkuti. In der Stangestraße, Weißer Hirsch, wohnte Herr Rigo, ein Ungar. Wir kannten die Geschichten des Wunders von Bern von der deutschen Seite; er erzählte die andere: daß die »Goldene Elf« (»Aranycsapat«) aus Angst vor den Reaktionen auf das verlorene Endspiel weit vor Budapest aus dem Zug stieg und sich zu Fuß, heimlich wie Landstreicher, über Acker und Wiese nach Hause schlich, geknickte, um ihr Leben fürchtende »Magische Magyaren«; Torhüter Gyula Grosics wurde der Spionage verdächtigt und unter Hausarrest gestellt, von Honved Budapest zum Provinzklub Bányász Tatabánya verbannt. Lóránt, Lantos, Budai, Bozsik, Buzánszky, Zakariás. Jedes ungarische Kind kannte die Namen. Und wir – vielleicht aus der seltsamen Ahnung, daß diese Niederlage auch mit uns zu tun hatte, die wir Rahn und Fritz Walter anfeuerten und Walters Buch »3:2« zu Altpapier lasen.
    Der Trainer. Er nannte uns »meine Jungs«, übte das WM-System und das englische »kick and rush«; und wenn er bei Laune war (so, unabhängig vom Ergebnis, wenn wir »Charakter gezeigt«, wenn wir »gekämpft und alles gegeben« hatten), erzählte er vom Jongleur Rastelli und seiner Bühnennummer vor den Spielern im DSC-Stadion, auf das die erste Bombe des 13. Februar 1945 fiel, und begann, der Trainer, wobei er die Hände in die Taschen steckte und eine chaplineske Nonchalance erreichte, zu »zaubern«, ließ den Ball auf der Brust rollen, aufder Stirn tänzeln, setzte sich, stand wieder auf, holte für den besten Spieler des Tages eine Brause, ohne seine Kunststücke zu unterbrechen; forderte uns, die wir natürlich auf ein wenig Demontage brannten, zum Angriff, ihm den Ball abzunehmen, was nicht gelang, einen um den anderen »seiner Jungs« ließ er lässig stehen, rief, im Lauf der Minuten abgerissener, die sagenumrankten Namen der Rot-Schwarzen, des Dresdner Sportclubs, über den Platz, der uns, nicht aber ihm, ein zähes Geläuf war, rief: »Helmut Schön, ›der Lange‹, hab ihn gekannt, nu isser Bundestrainer« und »der Pohl, stellt euch mal vor, hatte nur einen Arm, und damit die gegnerischen Stürmer umkurvt« und »Fritz ›Machete‹ Machate, der Torjäger« und »›König‹ Richard Hofmann, mit Kopfverband und Ohrenklappe, er hatte ein Ohr verloren, wenn der losbombte, zitterte das Torgebälk«; neckte, der Trainer, unaufhaltsam schon auf dem Weg in den Strafraum, unseren Torwart mit Vergleichen zum »schönen Willi, Willibald Kreß, der hat selbst dem Schalker Kreisel standgehalten«, schilderte, Ball kurz über Spann, Knie, Hacke, Spann, während wir reihenweise ausrutschten und wütend im Schlamm steckenblieben, wie der schöne Willi zum Entzücken der weiblichen Fans anfliegenden Flanken elegant entgegengesegelt sei und ihnen unter Abnahme seiner Schiebermütze, damals von allen Torhütern getragen, die Reverenz erwiesen habe, »natürlich weggeköpft, niemals Leichtsinn«. Wir hatten schon die Hände sinken lassen, wenn er einschoß, der Trainer, ein korrekter, liebenswürdiger Mann, für den man »erledigt« war, wenn man zu spät kam, und der, so ging ein nie verstummendes Gerücht, der Henker von Dresden gewesen sei in den fünfziger Jahren an der Fallschwertmaschine im Gericht am Münchner Platz und diese Maschine, schon von 33 bis 45 im Gebrauch, noch selbst aus einem gefluteten Steinbruch, wo sie voreilig versenkt worden sei, geborgen habe.
    Die Gegend des städtischen Magens hat mich immer angezogen. Sie ist mit Leben befeuchtet, das man nicht erst nach Verbindungswegen zum Alltag absuchen muß wie Bauten oder Dinge, die nie etwas mit einem Küchentisch zu tun hatten. Mich fasziniert, daß diese Stadt in der Stadt (eine auffällige Abkapselneigung bedingt Zutrittsregulierung, eigene Codes, eigene Formen von Frieden und Kriminalität) sich in den Dienst der Hegemonie des Traums stellt, des willentlich im Begehren nach Schönheit errichteten Namens – und daß sie gleichzeitig ungehorsam ist, um ihre Würde und Stärke weiß, den Mythos

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