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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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denen Filme oder ein »Wetscher Musiki i Tanza« (Abend der Musik und des Tanzes), wie es Ulrich Hässler auf einer Fotografie im Band »Rote Brause« festgehalten hat, angezeigt wurden. Dresden war eine besetzte Stadt, manche nannten es »Dresdengrad«; nach 89 zogen die Truppen ab; es gab eine Zugverbindung vom Neustädter Bahnhof nach Brest. Ich erinnere mich an einen dieser Abzugstage, ich war von Leipzig gekommen, wo ich Medizin studierte, und bis zum Waldschlößchen gefahren, um in der Phonothek nach Schallplatten zu stöbern und geliehene zurückzubringen. Die Straße, überschwärmt von Uniformen, Geschrei, an- und abrollenden Lastwagen, glich einem aufgeplatzten Leib, aus dem all seine Innereien hervorquollen: Sofas, Bettzeug, Stühle, Tische, Kleinkram, Unmengen von Videorecordern und sonstiger Elektronik, die die Soldaten im Tausch gegen Veranstaltungen in den Kasernen erworben hatten; Kalaschnikowschießen und geselliger Umtrunk mit Pilaw war bei Leihbeamten und Geschäftsleuten aus den alten Bundesländern besonders beliebt. Es ging hektisch zu, es wirkte wie eine überstürzte und planlose Flucht, das endgültige Abstoßen eines Fremdkörpers von einem Wirtsorganismus, den er in immerwährendem Fieber und meist mehr als weniger störender Entzündung gehalten hatte. Dennoch gab es von den Passanten, die wie ich die Straße entlangliefen und eilig dem nackten, fremden Hab und Gut auswichen, keine hämischen Kommentare. Am Rand entdeckte ich die Kalte Klawdia. Sie rauchte eine Zigarette, anscheinend gleichgültig, wie unberührt inmitten von Kinderweinen und Chaos, neben ihr standen mehrere große Plastbeutel aus einem Supermarkt. Ich weiß nicht, ob sie mich kannte. Als ich mich, meine Scheu überwindend, ihr näherte, eine unbestimmte Armbewegung vollführte und »Kuda« versuchte (Wohin), sah sie mich kurz an, zuckte die Achseln. Auf die Heimkehrer wartete niemand; irgendwo in Rußland würden sie in Zelten hausen müssen. Ich wollte ihr etwas schenken, kramte in meinen Taschen, Geld hätte beleidigend wirken können (und ich hatte selber keins); ichfand nur mein Taschenmesser. Die Kalte Klawdia nahm es verwundert, dann hellte sich ihr Gesicht auf, sie griff, indem sie auf die Schallplatten wies, die ich unterm Arm trug, in einen ihrer Beutel, reichte mir einen Umschlag. Ich öffnete ihn in der Phonothek. Ein Röntgenfilm befand sich darin; wenn man ihn gegen das Licht hielt, erkannte man eine Lungenaufnahme mit den Zeichen eines Bronchialkarzinoms, darüber, in die Oberfläche des Films graviert, eine feine, fortlaufende Rille. Es war eine Schallfolie, auf einem Apparat hergestellt, in den die russischen Soldaten des Lazaretts zwei, drei Minuten lange Grüße an ihre Angehörigen sprechen konnten, die in eine handtellergroße blaue Plastscheibe geschnitten wurden. Klawdia hatte einen Röntgenfilm verwendet. Darauf befand sich, begleitet vom wiederholten, durch die schlechte Übertragungsqualität gedämpften »Gidje? Gidje?« – Wo? Wo? –, das Geräusch geschaufelter Kohle.

26
    Wenn ich Miles Davis höre, die unsterbliche konzentrierte Frische von »Freddie Freeloader« oder »Blue in Green«, ist es mir, als lebte ich wieder in der »Insel Helgoland«, einem Mehrgeschosser mit putzbröckeliger Fassade und rindfleischroten Ziegelwunden, wie es bis zur Sanierung in der Äußeren Neustadt viele gab. Wieder warte ich im Kaffeehaus Lloyds am Martin-Luther-Platz, am Ecktisch vor dem Bücherregal mit Nippesfiguren, die mir vom Wind erzählen, vom Fluß; der hintergründig lächelnde Narr mit Reiherschnabelnase und blechschellenbeknöpftem Spitzhut, der Kavalier und die schmachtende, in einem Tanz erstarrte Porzellanjungfer, wahrscheinlich made in Hongkong oder Taiwan, Nachahmungen für die Trödelmärkte einer nostalgiesüchtigen Welt. Ich wartete auf Lotte, die in einer Motorradwerkstatt arbeitete und nach Feierabend gern auf einen Schwatz ins Lloyds kam. Sie wohnte zwei Etagen über mir und wollte schon als Dreijährige Mechanikerin werden. In diesem vorurteilsfreien Alter erkannte sie – dies bestätigte ihr Vater, ein Klavierbauer – die Fahrzeuge am Motorgeräusch und amMotorgeräusch die Fahrkünste. Ich wartete auf sie, um ihr zuzuhören, ihren Geschichten von tätowierten Frauen, Gewürzverkostungen, Pferdebeschneidungen, bei denen die Hoden des nunmehrigen Wallachs auf den Kompost geworfen und dort, perlmuttern schimmernde Kugeln, von den Hofhunden gefressen wurden, Geschichten von

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