Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Himmelheber, von allen »Rat« genannt, erste Etage der »Insel Helgoland«. Er ging mit Schlips und Hemden, denen das Weiß der Birnenblüten genügte, wurde Kunde beim »Weltraumfriseur« Bautzner / Ecke Rothenburger, bekam das Haar getrimmt von Commander Doreen, zahlte spottlos einen der zwar geräumigen, aber fairen Preise; »Teil eines Netzes von Haarverschönerungsstationen, das die gesamte Milchstraße umspannt. Ein bestens ausgestattetes Raumschiffmodul, das wir unauffällig in ein Gründerzeithaus … integrieren konnten«. Rat Himmelheber aber war ein sogenannter Friseurnomade, denn außerdem suchte er »Barbier Boffi« auf, Giuseppe Boffis Ladenkombination (Haarschnitt, italienische Oper, Hundesalon). Rat Himmelheber speiste im Miniaturrestaurant »Herr Rosso und sein Hund«, Louisenstraße, gegenüber der Dreikönigschule, die in einer Epoche gebaut worden war, als man hinter »Jungen.« und »Mädchen.«, gemeißelt in kaisertreue Fassaden, noch einen Punkt setzte wie einen guten Grund für getrennten Unterricht. Herrn Rossos Hund blieb unsichtbar. Der Kellner hatte den Vorzug, schweigsam zu sein. Manchmal leerte sich Rat Himmelhebers Blick. Dann folterte ihn die schwarze Wut. Er war als Junge nach der Reichskristallnacht vierundzwanzig Stunden mit Straßenbahnen kreuz und quer durch Dresden gefahren, um der Verhaftung zu entgehen – nur um feststellen zu müssen, daß die Gestapo in dem Moment, als er sich der Wohnung näherte, seine Eltern und seinen Bruder abholte. Sein Vater rief: Was willst du? Scher dich fort, sonst könnte man denken, du gehörst auch zu uns! Eltern und Bruder kamen nicht wieder. Nach dem Krieg wurde er Lehrer. Er entdeckte das Gehör der Wasserwanze (»habe ihr was vorge-geiiigt!«), begann seine Stunden mit dem Liebeskummer zentralafrikanischer Darmtrichinen, endete beim Neandertaler, zwischendurch erfuhren die Schüler allerlei über Rosenzucht, Nachtschmetterlinge, Anophelesmücken, Vögel, die man an der Vogelwarte Hiddensee beobachten konnte, all das in fünfundvierzig Minuten. »Mein Bild von einer neuen, gerechten Gesellschaftsordnung hatte mit der Wirklichkeit des Vierten Reichs sowenig zu tun, daß ich, irgendwann, gewisse fatale Ähnlichkeiten zur Wirklichkeit des Dritten nicht mehr zu verdrängen imstande war.« Er ging durch das Viertel, erprobte mit seinem Malakkastock gern den Klang schöngeschnittener Exemplare von Pflasterstein-Katzenköpfen, setzte sich ins »bottoms up«, kehrte im »Stoffwechsel« ein, wo die Millionärsexgattin Sabine Ball Obdachlose versorgte, suchte in »Pfunds Molkerei« nach Erklärungen, fand statt dessen vielerlei Sorten Käse vor den Fliesen der Dresdner Firma Villeroy & Boch; er schenkte den verdutzten Bettlern am Supermarkt Alaunstraße, die immer wieder ihre riesigen Hunde umarmten, ein Aquarium, aber es half nichts gegen die Zustände verzweifelter Raserei, in denen er die Prießnitz entlang in den Wald lief, gegen die Ohnmacht seines Hasses, wenn er den Neumarkt »und seine verlogene Zuckerbäckerei« betrachtete, wenn er die Frauenkirche, zu deren Aufbau er einen bedeutenden Betrag gespendet hatte, in die Luft sprengen wollte, »um sie die Strafe bezahlen zu lassen, noch einmal und bis zu ihrem jüngsten Tag, all die Kleinbürger, die ihre Eierschecke fressen, vom alten Dresden faseln, vom Mythos der Steinernen Glocke, den sie sich kaufen zu können meinen, und nun haben sie eine Hülse bekommen, einen sandsteinernen Kaffeekannenwärmer, das ist die geheime, aber nie ausgesprochene Enttäuschung, des Kleinbürgers tiefster Kummer – alles ist da, genau wie es war, aber doch fehlt etwas, das Entscheidende, die neue Frauenkirche ist hohl, innen gleicht sie einem Stück Sachertorte, sie ist nicht mehr mit den Wünschen, Erinnerungen, dem Atem und dem Herzschlag von Generationen durchlebt; sie haben uns umgebracht, das bleibt ihr Kainsmal, und sie spüren es«; er schrie und tobte, und wenn seine Wut den gefährlichsten Punkt erreichte, wurde er still und sagte: »Nichts wird sich ändern. Der Mob ist ewig, die Neustadt ein Phantom – all diese Punks und Alternativen und Multikultileute, die Hanfdreher, Videoüberwacher, gutverdienenden Teilzeit-Aussteiger und Selbstgestrickten, weißt du, was sie tun werden, sobald sie die Gelegenheit dazu haben? Plündern werden sie, rauben, vergewaltigen und morden, genauso wie die, von denen sie das erwarten; sie glauben, anders zu sein, bessere Menschen, aber auch ihre Zivilisation ist nur
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