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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Wohnungsmaklerin, liebte die Zahl 19, weil sie die Einsamkeit einer Primzahl mit dem Stolz, sie zu ertragen, die Unbeugsamkeit der melancholischen Atlanten, die die Petersburger Häuser auswuchteten, mit Zurückhaltung vereine. Übrigens träfe das auch auf Brombeeren zu, die zu eigen und hintergründig seien, um die gefällige, oft auch nur platte Süße der Erdbeeren feilzubieten oder am Bonbonuniversum der Himbeeren teilzunehmen. Brombeeren, das sei unverfälschter Alltag, zugegeben mit der Aussicht aufs Wochenende, Brombeeren seien eine Charakterfrucht, heilsam und nicht ohne Strenge, weswegen sie Hedas Brombeerstilleben schätze, die Unergründlichkeit des Pastete und Tisch vorweisenden Raums – »Dinge, die noch etwas bedeuten«; auch Dresden sei, gewissermaßen, eine Brombeer- und keine Erdbeerstadt, obwohl die ruchlos unzüchtige PR-Maschinerie, der ganze Rummel aus Striezelmarkt, Stollenbäckerei, Pflaumentoffeln, Drehleiern, Semperoper und Frauenkirche anderes behaupte. Auch liebe sie die beiden Farben, die sich zur 19 verbündeten: das Weiß der 1 und das Blau der 9; ihr heimlicher Wunsch sei eine Tochter, an einem 19. geboren. Ob ich das verstehen könne? (Ich war mir nicht sicher.) So aber hatte sie, stellte sie mit der Unruhe derer fest, die überzeugt sind, ihr Laster heiße Zeitverschwendung, die besten Voraussetzungen, ihre Abende in einer Shisha-Lounge zu verbringen, den kühlen, auf Apfelarom reisenden Rauch einer Wasserpfeife unter dem beruhigenden Blubbern hintergründiger persischer Nachtigallen zu inhalieren. Danach war sie einigermaßen high, schritt glücklich durch den Hundekot, nannte ihn formlose Philosophie und schwärmte von James Joyce’ Brillengläsern, die »so dick waren, daß sie jenes Teichgrau erreichten, in dem die Menschen und Sternbilder wie selbstlose Fische schwimmen«. Sie war zufrieden, wenn in den Wohnungen, die sie vermittelte, tiefere Tapeten zum Vorschein kamen. Wenn Häuser es verstanden hatten, von einem Naturschutzgebiet überwuchert zu werden. Sie liebte die clarté (ihr Wort) Stendhals – »das einzige 19. Jahrhundert ohne Korallen«. Begann die »Bunte Republik Neustadt«, deren gewalttätige Dünungen die »Insel Helgoland« erreichten, ging siezu Dr. Selle in die Alaunstraße, in dessen Praxis Links und Rechts in feindseligem Frieden husteten, schloß zu Hause die Jalousien, legte eine CD ein, die sie mit Mittelmeerrauschen vollgebrannt hatte, las architekturkritische Schriften oder spielte Schach gegen eine vom Bauernhof des Großvaters stammende indigene Vogelscheuche, der sie den Namen Dritter Weg gegeben hatte. Vielleicht war ihre Trauer eine der Voraussetzungen, Trost möglich zu machen – einmal traf sie Lotte weinend auf dem Treppenabsatz, Lotte umarmte sie (»was mich auf die Idee brachte, eine Bar mit Namen Balalaika Brothers zu suchen«), Lotte hatte eine Frau verlassen, »wieder mal«, hatte sie gesagt, Quichotte war verständnisvoll genug, sie in die Wohnung zu bitten und ihr eine Flasche Brombeermost anzubieten, worauf Lotte beruhigter vor den Korridorspiegel trat, ihre nässeverklebten Wimpern bürstete, kritisch die schwarzen Tuschespuren auf ihren Wangen betrachtete: »Ooch ni’ mehr das, wasses ma’ war!« Quichottes Lieblingsbuch hieß »Lob des Schattens« von Tanizaki Jun’ichiro, ein schmales schilfgrünes Brevier über japanische Zimmer. Quichotte, wie ich sie nannte, hatte im »LeseZeichen« auf der Prießnitzstraße fünfzig Stück gekauft, um sie an Freunde zu verschenken; solange ich in der »Insel Helgoland« lebte, blieben alle Exemplare bei ihr.
27
    Die Neustadt, dieses Berlin Dresdens, befand sich in ständiger Spannung und Bewegung. Wer zuzog, spielte eins der Brownschen Teilchen, die sich mehr oder weniger deutlich gebärdeten und unter dem Druck, jetzt sofort die Privilegien der Jugend genießen zu müssen (wozu sonst zog man in die Neustadt), den Reibungs- und Anheizprozeß mit frischer Elektrizität versorgten. Was dazu führte, daß der bunte Magnet Neustadt immer mehr Dinge und Menschen anzog, die von der Norm abwichen – bis das Schrille und Schräge selbst Norm geworden war, der Magnet die Prämissen änderte und Normalität anzuziehen begann. »Der Pirol der Pirole ist der Spatz, beim Spatz beginnt undendet das Pittoreske, das ist der Grund, warum sich die Montmartres nicht halten; aber würde sie tatsächlich jemand haben wollen, wenn sie nicht verlorengegangen wären?« stichelte der pensionierte Studienrat

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