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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Ochsenledergürteln und Pflanzengerberei, Zwischengetrieben, spätestens beim Bier die Sagas der Oldtimer im Verkehrsmuseum und ihrem, wie sie formulierte, Lieblingsteil, der »Böhmerland« – ein sofalanges Motorrad mit botanisiertrommelhaften Anhängseln und einem Lenker, so eigenartig gebogen wie die Schwanzschwinge einer Gabelweihe. Albin Liebisch habe dieses Motorrad konstruiert, erfuhr ich von Lotte, und außer von Albin Liebisch sprach Lotte nur selten von Männern. Ich betrachtete ihre unter anderem mit einem Totenkopfring aus Jade geschmückten Finger, die, während sie Tee und dann ein Helles trank, so gezielt in die Geschichten stachen wie eine Injektionsnadel mit einer Ladung Adrenalin in ein ausgerutschtes Herz. Wenn draußen das Licht abnahm, sich der Dämmerung ergab, in den Eckspeiern der Lutherkirche verkroch, die so sehr dem Fledermauszauber von Kafkas Schriften glich, während die Bürgerhäuser ringsum die Nüchternheitspastelle der Buddenbrookswelt verkörperten, wenn das Licht in die Hände der Schattenspieler geriet, wurde das Lloyds zu einer verrauchten Kogge. Es kam die Zeit der Tees, die als rostige, bernsteingelbe, leguangrüne Bojen den Weg der beiden Kellnerinnen markieren würden, gestört von Blumen, die ein Brillantinescheitel-Bengale reichte: Rosen, besonders langstielige Rosen; erwarten Sie die, die Sie glücklich macht, mit einer Überraschung! Dann trug er, wenn alle an ihm vorbeigeblickt hatten, die rotbeköpften Schwerter wieder hinaus; einmal kaufte mir Lotte eine Chrysantheme, ich habe es, auch weil ich beschämt war, nie vergessen. Weiß, verschlossen und lichterloh wie das Gesicht einer Geisha auf einer Lumière-Autochrome-Fotografie, hinterließ diese Blume etwas Bizarres, angenehm Fremdes im Westindienzimmer, wie wir den Bereich mit Kamin, an dem Messingbesteck gelassen lehnte, Bibliothek, schwerhörigen Spiegeln, einem Zigarrenautomaten nannten, vor dem mittwochs eine Runde Philosophen saß und in Hegel-Ausgaben stocherte, um beim Qualm der Lonjas und Dannemanns aus dem Humidor zu beweisen, daß sich nichts geändert hatte am Gang der Dinge. Musik –
    Quichotte, eine Frau, die nicht Windmühlenflügel jagte, auch nicht die der Stromerzeuger, sondern Stimmen, Gesichter, Geschichten, sie, die eine Zeit- und Leben-Sammlerin war, Marodeurin gegen den Untergang, den die Uhren veranlassen mit ihrer schwachen, aber stetig wirkenden Kraft. Quichotte, eine Liebhaberin des Vinyls, erzählte vom Schallplattentheater in der Webergasse, ertrug das Klavierspiel meines Nachbarn in der »Insel Helgoland«, Giuseppe Boffi, der Verdi Legato-Paläste baute, vor Beethovens Unwirschheiten zurückschreckte, in Puccinis Arien herumstolperte wie ein nachtblindes Kind auf der Suche nach einem Ausweg; sie dachte an die Klänge des Portugiesischen Cafés im Hechtviertel. Eine Schallplatte, deren Kreisen das Punktlicht am Plattentellerrand zu Tangoteig verdickte. Musik aus der Jukebox, deren Skelettarm immer wieder dieselben Stücke herausgriff, weil Brynn, die katzenhafte dänische Kellnerin, sie liebte und die Gäste Brynn liebten, ihre angenehme, für eine Kellnerin zu gerührte Aufmerksamkeit, ihr fast akzentfreies Deutsch und die Augen eines bei Großeltern aufgewachsenen, märchenbücherlesenden Mädchens. Was machte es, daß sie die Tees manchmal verwechselte, die jeder Gast sich aus den Schubladen ehemaliger Apothekenschränke auswählen konnte, daß sie manche Gäste bevorzugte und sich mit ihnen länger als üblich unterhielt. Jeden Abend kam ein griesgrämiger Rechtsanwalt, wärmte sich an einem chinesischen Schießpulvertee die Hände, zog einen Stapel Akten und eine Bleistiftspitzmaschine aus der Tasche, schärfte drei dunkelgrüne Faberstifte und begann in der Gerechtigkeit herumzupicken. Die revolutionäre Töpferin pflanzte die Fahne der Anarchie auf ihren Tisch, hißte nach Stimmungs- oder Weltlage auf Halb- oder Vollmast; hin und wieder stieß sie die mit Eulenaugenringen verzierte Rechte ins Haar und stand auf, um Untergrundpostillen zu verteilen, in der Akzidenz-Druckerei ihres ebenfalls anarchistisch gesinnten Onkels berückend schön auf zartgelbes Papier gedruckte, handgesetzte Bögen mit Hammer und Sichel, Thälmannmütze, über Metallurgen-Zahnrädern gereckten Arbeiterfäusten und Aufrufen zur Teilnahmean Demos. Manchmal spielte Tango Verde, manchmal sang Schaljapin. Emilie ist tot, die eine Klemm flog, das gelbe Flugzeug mit dem blauen Namen Hirondelle. – Quichotte,

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