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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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ein dünnes Netz über dem unsterblichen blutfressenden Tier. Und womöglich bin ich selber keinen Deut besser.« Die Architekten widersprachen ihm. Sie tagten im »Arabusta« am Körnerplatz und hatten sich zu einem Netzwerk namens »[propeller.gelb]« zusammengetan. Lag es am Herbst, daß sie, Samurai der Moderne, deren Mütter die Mängel ihrer Socken und ihre Lieblingspuddings kannten, sie, die in mönchischen Idealen das Schlaraffia des Lichts und der Klarheit sahen und deren Sehnsucht es war, »endlich mal einen draufzumachen zwischen Barock und Fritz Löffler, aber so richtig; wir können doch ni’ immer von Muhmjen lähm!«, daß sie, die nach Berlin zum Potsdamer Platz fuhren, um diesen Silizium-Hafen zu bewundern, die Verteidigung George Bährs entdeckten und den Wiederaufbau der Frauenkirche gegen Rat Himmelheber in Schutz nahmen? Der neue Mythos sei doch der des Wiederaufbaus, der gemeinsamen, bürgerschaftlich getragenen Anstrengung, welche Leistung! Und so recht der Rat habe, daß eine Sage nur dort entstehen könne, wo vielen gemeinsam etwas bedeute, wo man Stücke, und besondere, von Leben hinterlegt habe: Taufen, Hochzeiten, Begräbnisse: so seien doch diese Bedingungen bei der neuen Frauenkirche erfüllt, Zeit- und Lebenszoll heutiger Generationen entrichtet, der Rest sei Patina, und die komme von allein.
    »Insel Helgoland«. Die Neustadt sog ein, spie aus, kurbelte Miethaie zu Fischstäbchen. Erscheinungen, wie sie im Wort »Konzertklause« bewahrt sind, verschwanden, Brigadefeiern, Topfpflanzen unter Gilbgardinen, Skatturniere, Grands Ouverts, eingerahmt an der Wand. Der Wirt der »Konzertklause« trug einen Lederkittel, angeblich aus Wirtsvaters U-Boot-Mantel geschneidert, und zapfte das Bier mit der Konzentration eines Konstrukteurs. Der Kellner mochte um die Siebzig sein, kannte die Gäste, wußte, was sie tranken, stellte ihnen ihr Getränk, ohne zu fragen, auf den Tisch. Es kamen tätowierte Jungs in engen Blazern, Narben an den Armen, zu Sitzungen ihrer Vereine »Harmonia« oder »Freunde der heiteren Muse«. Manche dieser Sitzungen endeten mit schlagenden Argumenten, und mehr als einmal habe ich Lothar »Möwe« A., der in einem Schrotthandel arbeitete und »Juwel«-Zigaretten rauchte, im Krankenhaus Bierglasscherben aus seiner gut durchbluteten Kopfhaut entfernt. Es kamen Herren ohne Zukunft und Damen mit Vergangenheit, fünf spielten fast jeden Abend Rommé, eine trank ihr Bier nur vorgewärmt, der Kellner legte es ihr auf die Heizung. In »Hebeda’s Familieneinkehr«, Rothenburger / Ecke Böhmische, spielt jetzt die Zebra Disco (»Tanzen macht schön«). In der Gaststätte »Bei Muttern« wartet, verteidigt von Tischen mit gemangelten Decken, eine alte Registrierkasse, einsam wie ein Kamel im Regen. Das »Carte blanche« bietet Unterhaltung für jene, die hinter dem Billigen, Schalen, Lauten einer auf Nepp getrimmten Transvestitenshow die elementare Spielfreude, die Kraft, mit Einsamkeit fertig zu werden und »das Beste draus zu machen«, zu sehen vermögen; das anrührende »Kopf hoch«. Kneipen, Bars, Cafés – inzwischen kommt wahrscheinlich auf jeden Bewohner der Neustadt ein Etablissement. Die »Schauburg«, eine büffelbraune Zitadelle an der Königsbrücker / Ecke Bischofsweg, hält Dresdner Kinotradition hoch. In der Filmgalerie »Phase IV« findet man die seltensten DVDs, womöglich sogar Filme, die nie gedreht wurden; Melville-Spezialisten klappen die Kragen ihrer Trenchcoats auf, verschwinden in Delons Nebel-Paris; irgendwo sitzt die Olsenbande beim Tuborg über einem mächtig gewaltigen Ding. Graffitti wuchsen, auch an der »Bäckerei und Conditorei Erich Claudius«, deren Brotduft über die Kamenzer wie ein Luftzug aus dem Paradies strich. Graffitti verschwanden, auch am »Condomi« und der »Scheune«, deren Suchertum noch nicht einmal bei Lotte Reinigers Scherenschnittfilm »Die Abenteuer des Prinzen Achmed« endete. Das »Catapult« offerierte Überlebenspakete, farbige Gefühle, den Heul-Dollar, »das starke bedruckte Designertaschentuch«. Parkplätze gab es immer zu wenig. Bagger wühlten die Erde auf. Irgendwann entschloß sich Rat Himmelheber, in Analogie zu Lichtenbergs Perückenschwanzkatalog einen der Hundehinterlassenschaften zu erstellen. Im Armyshop gab es geflickte Seesäcke und Messer von NVA-Kampftauchern. In die Glascontainer neben der »Insel Helgoland« klirrten Flaschen auch nach 19 Uhr. Zwei junge Frauen mit überlegten Bewegungen, einem

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