Die schweigenden Kanäle
verhindern mußte.
Prof. Panterosi war dann wieder gegangen. Erregt, auf die Kaufmannsseelen schimpfend, Cravelli beschwörend, die Berwaldtsche Erfindung für Italien zu sichern.
Daran dachte Sergio Cravelli, als er die erste Zeitung auffaltete.
Eine rote Schlagzeile schrie ihm entgegen.
»Wo ist Dr. Berwaldt?«
Cravelli fegte die Briefstapel vom Tisch und öffnete mit bebenden Fingern die anderen Zeitungen. Überall war es das gleiche. Auf der ersten Seite, in roter schreiender Schrift.
»Wo ist Dr. Berwaldt?«
Und darunter der Text, bei dessen flüchtigem Lesen kalter, klebriger Schweiß aus Cravellis Körper brach. Sein Vogelgesicht war fahl, fiel in sich zusammen, als löse sich unter der Haut das Fettgewebe auf.
Ilona Szöke … vor zehn Jahren … im Canale Santa Anna … Dr. Berwaldt, zuletzt gesehen im Canale Santa Anna … Wo ist Dr. Berwaldt … 100.000 Lire Belohnung …
Cravelli sprang auf und rannte hinaus. Von der Halle blickte er auf seine breite marmorne Treppe zum Canale. Wieder saßen die Bettler dort … sie starrten gegen den Palazzo und spielten auf einer Harmonika und einer Geige wehmütige Melodien. Cravelli stieß den Kopf vor. Er kannte die Melodie. Man spielte sie bei den Begräbnissen … Grabgesänge …
»Ruhe!« brüllte er und hieb mit der Faust gegen die Wand. »Ruhe! Ruhe!!« Er rannte durch die Halle, raste die Treppe hoch, durchquerte sein Arbeitszimmer und stürzte auf den Balkon. Mit beiden Fäusten trommelte er auf die Steinbrüstung. »Ruhe!« schrie er grell. »Ruhe! Zum Teufel noch einmal! Ruhe!«
Der Butler und zwei Diener eilten ins Zimmer. Der Butler trug ein Glas Wasser und reichte es dem bleichen Cravelli. Mit einem Fluch nahm er das Glas und warf es vom Balkon gegen einen der Bettler. Dieser fing es geschickt auf, betrachtete es, nickte zufrieden und steckte es in die Tasche seines zerlumpten Anzuges.
Cravelli schlug die Türe zu. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er seine Bediensteten an. Hatten Sie auch schon die Morgenzeitungen gelesen? Sicherlich. Es war das erste, was man in der Küche tat. Lockten sie die 100.000 Lire Belohnung? Stieg in ihnen nicht Verdacht auf?
Eine stille, aber fast lähmende Angst kroch in Cravelli hoch.
»Was ist? Was steht ihr hier herum?« schrie er, um sich mit dem Klang seiner Stimme Mut zu machen. »Mich machen diese Ratten da draußen nervös! Wahnsinnig machen sie mich! Sorgt dafür, daß sie verschwinden! Ich gebe euch 10.000 Lire extra, wenn sie verschwinden! Und wenn ihr sie in den Canale werft …«
»Es werden neue kommen, Signore.« Der Butler bückte sich und hob die auf den Boden gefegten Briefe auf. »Wir haben es schon versucht … es ist sinnlos.«
»Aber was wollen sie denn hier?« keuchte Cravelli.
Die Diener sahen hilflos aus. Auch der Butler machte ein verzweifeltes Gesicht. »Wir wissen es nicht, Signore. Sie sagen nichts … sie lächeln nur und bleiben –«
Cravelli winkte. Die Diener verließen schnell das Büro. Er ging noch einmal an das Fenster und starrte hinaus. Die Bettler verhandelten mit einem Besucher Cravellis. Er erkannte ihn. Es war Paolo Dipaccio, ein Landmann, der seine Felder verkaufen wollte, weil eine Siedlungsgesellschaft Reihenhäuser bauen wollte. Anscheinend wollte Dipaccio nicht seinen Namen nennen. Die Bettler versperrten ihm den Weg zur Tür. Aber auch zurück konnte er nicht mehr … der Gondoliere hatte seine Gondel wieder abgestoßen und ruderte zum Canale Grande zurück, ungeachtet der Rufe, die Dipaccio ausstieß.
Wenn das Panterosi gelesen hat, dachte Cravelli und zerknüllte die Zeitung. Sicherlich hat er es gelesen. Und er wird in wenigen Minuten hier erscheinen, die Bettler werden ihn festhalten, er wird toben, es wird einen Skandal geben, er wird die Polizei alarmieren … Cravelli schluckte krampfhaft. Natürlich, die Polizei. Sie würde nun auch zu ihm kommen, nach diesem Artikel! Und es würde wieder wie vor zehn Jahren sein. Fragen über Fragen, aber dieses Mal argwöhnischer, gezielter.
Er setzte sich schwer hinter seinen Schreibtisch und legte den Kopf in beide Hände. Zehn Meter unter den Dielen seines Zimmers saß um die gleiche Zeit ein Mann vor einem voll eingerichteten Laboratorium, unrasiert, geblendet von den Tag und Nacht brennenden Neonröhren, und trank in kleinen Schlucken Orangensaft.
Cravelli schloß die Augen. Ging so ein erfolgreiches Leben zu Ende, dachte er. Ist das der Abschied des großen Sergio Cravelli? Wie zielbewußt war bisher sein
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