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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Klopfer gegen die Tür dröhnen und hörte die helle Stimme der Frau: »Bleiben Sie hier, Gondoliere! Warten Sie auf mich.«
    Mit eigener Hand hatte Cravelli geöffnet. Er verstummte beim Anblick der Schönheit, die ihm entgegenlachte. Der Gruß blieb ihm in der Kehle stecken, er stammelte heiser einige unverständliche Worte und geleitete die junge Frau in seine Bibliothek.
    »Ich möchte den Ring sehen –«, hatte sie gesagt.
    »Einen Ring?« hatte Cravelli dumm gefragt.
    »Ja! Sie haben doch einen Ring zum Verkauf angeboten. In der Zeitung –« Ihre Stimme war hell, energisch und sehr aufreizend. Er stellte sich diese Frau in seinen Armen vor, heiß flüsternd und dann vergehend und aufblühend in Schreien der Lust. Es waren Augenblicke, die Cravelli immer wieder durchlitt, wenn er sich an diesen schwülen Sommerabend erinnerte.
    Er war so verwirrt, daß er an der Schwelle zur Bibliothek stolperte. Dann zeigte er den Ring und nannte einen lächerlich niedrigen Preis. Es war ein uralter Ring, gefunden bei Ausgrabungen. Ein Wertstück, um das jedes Völkerkundemuseum zu ihm gekommen wäre. Die Frau lächelte … sie zählte mit schlanken, flinken Fingern das Geld auf den Tisch, streifte den Ring über und ließ ihn in dem Licht der Standlampe blitzen. Cravelli stand hinter ihr. Tief sog er den herb-süßen erregenden Duft ihres Haares ein und der leichte Flaum auf der Nackenhaut und an den Wangen – eine Pfirsichhaut – ließen ihn rasend werden.
    Und da war noch mehr: Die Linie ihrer Schultern, der Schwung ihrer Taille und der Hüften, die sich durch das Kleid abzeichnenden Brüste … und draußen der schwüle Abend über den Kanälen, die drückende, begehrlich machende heiße Luft von den Lagunen. Cravelli seufzte tief.
    Erstaunt hatte sich Ilona Szöke umgeblickt. Sie sah in zwei flimmernde Raubtieraugen. Sie wollte etwas sagen, wollte zurückweichen … da hatte Cravelli schon zugegriffen, riß sie an sich, küßte die Umsichschlagende, wild, wahnsinnig, keuchend, ein lüsternes Tier … er biß ihr wie ein Vampir die roten Lippen auf, saugte die Blutstropfen auf und umklammerte sie mit eisernen Armen.
    Sie schrie, gellend, hell, um sich tretend … da hatte er die Hände auf ihren Mund gepreßt und sie mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, immer und immer wieder, bis sie ohnmächtig in seinen Händen hing –
    Sergio Cravelli trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Die Erinnerung ließ sein Herz zucken.
    Vor zehn Jahren war das. Niemand hatte Ilona Szöke vom Palazzo Barbarino fortfahren sehen. Auch der draußen wartende Gondoliere blieb verschollen, ebenso wie seine Gondel. Eines Tages zog man Ilona aus dem Rio Marin. Es war ein Tag, den Cravelli nie vergaß. Er hatte aber nie damit gerechnet, daß sie jemals wieder an die Oberfläche kam. Er hatte auf die Ratten gehofft, die sonst alles abnagten, was in die Kanäle hinter den glänzenden Fassaden geschwemmt wurde.
    Die Polizei war gekommen. Aber nie fiel ein Verdacht auf den großen Cravelli. Es waren nur Routinefragen gewesen. Man glaubte ihm ohne große Beweise, daß Ilona Szöke nach der Besichtigung des Ringes wieder weggefahren war. Im Gegenteil … man faßte die Untersuchungen so zusammen, daß als Mörder nur der Gondoliere in Frage käme! Man hatte ihn nie wieder gesehen. Das wurde nun erklärlich: Nach dem Mord war er aus Venedig geflüchtet. Vielleicht lebte er in Mailand oder Rom oder Genua … man kannte seinen Namen nicht. Und so schloß man die Akten über den Fall ›Ilona Szöke‹. Nur Rudolf Cramer glaubte nicht an diese billige und einfache Auflösung des Rätsels von Venedig. Jedes Jahr erschien er im Palazzo Barbarino und brachte Cravelli allein schon durch seine Gegenwart an den Rand der Verzweiflung. Jedes Jahr wurde die Erinnerung wieder aufgerissen, und es brauchte Wochen, bis selbst das harte Gewissen Cravellis sich beruhigte.
    Er starrte vor sich hin. Die Zeitungen vor ihm schrien ihn an. ›Wo ist Dr. Berwaldt!‹ Mit beiden Händen griff er zu, zerfetzte die Blätter und warf sie im Zimmer herum.
    »Es muß etwas geschehen!« sagte Cravelli laut. Mit gespreizten Beinen stand er auf den Zeitungsfetzen. »So geht es nicht weiter!« Er ging zur Tür, schloß sie ab, drückte fest gegen die Klinke, um sich zu überzeugen, daß sie auch sicher sperrte, und wandte sich dann dem riesigen Bücherregal zu. Etwa in der Mitte des Regals, wo alte, dicke Folianten standen, bibliophile Ausgaben alter venezianischer

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