Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
dass es leichter wäre, sich angemessen zu verhalten. Und den leichteren Weg wollte sie auch für mich …«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Ich vermutlich auch nicht. Aber was auch immer es war, das sie in jenem Sommer hat zerbrechen lassen, sie wollte mich vor solch einem Schmerz bewahren. Ich kannes ihr nicht übelnehmen, schließlich will ich auch nicht, dass Lil weh getan wird. Aber …«
»Aber deine Mutter wollte auf keinen Fall, dass du in ihrem botanischen Garten eine Wildblume bist.«
Ich wandte den Blick ab und rieb mir die Augen, als könnte das die ungebetenen Tränen aufhalten.
»Oh, Ellie, es tut mir leid.« Er zog mir die Hände von den Augen weg. »Sieh mich an. Es tut mir leid.«
»Ich hatte das noch nie so gesehen.« Ich wischte mir die Augen mit der Serviette ab. »Es muss dir nicht leidtun, dass du die Wahrheit gesagt hast. Also, erzähl mir was über die anderen Frauen in der Ausstellung.«
Er nahm sich eine Pommes von meinem Teller. »Keine ist annähernd so interessant wie deine Mutter. So viel kann ich dir sagen.«
»Nach all dem, was sie zu dir gesagt hat, sprichst du immer noch nett über sie? Nach …«
»Sie war, wie sie war, Ellie.« Er zeigte auf meine Tasche. »Musst du da rangehen?«
»Was?«
»Dein Handy klingelt.«
»Oh.« Ich sah nach unten, dann ihn an. »Kennst du das, manchmal ist man mit jemandem zusammen und redet und denkt dabei an jemand anderen oder etwas anderes … man ist in Gedanken ganz woanders.«
Er lachte. »Klar. Bist du ganz woanders?«
»Nein, das ist es eben. Wenn ich mit dir zusammen bin, will ich nirgendwo sonst sein.«
Er lehnte sich zurück und lächelte mich an. Bevor er sprach, trank er einen großen Schluck Cola. »Ich muss dir wohl nicht sagen, dass es mir genauso geht.«
Wir redeten das ganze Essen hindurch.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte ich.
»Ja.«
Er legte Geld auf den Tresen, und wir gingen hinaus. Hutch machte noch ein paar Fotos von der Außenseite des Cafés. »Vorher-nachher-Fotos«, sagte er.
»Schöne Idee.«
Wir gingen zu unseren Autos und umarmten uns zum Abschied. »Danke für deine Hilfe. Wahrscheinlich hätte ich auch so einiges herausbekommen, aber durch dich hat es mehr Bedeutung.«
Ich nickte. »Gern geschehen.«
Im hellen Sonnenschein hielt er meine Hand. »Du Wildblume.« Er lachte und küsste mich auf die Wange, dann ging er, ohne auf Wiedersehen zu sagen.
»Tschüss«, sagte ich zum leeren Gehweg.
Wildblume .
Die Geschichte hatte ich Hutch erzählt und nicht gedacht, dass er sich daran erinnerte.
Mutters Garten war ein farbenfroher und prächtiger Blütentraum. Als Kind war er für mich der reinste Ausdruck von Schönheit. Ich konnte Mutters Liebe zu den Blumen verstehen, wegen ihrer Schönheit, ihres Geruchs und ihrer außergewöhnlichen Zerbrechlichkeit.
Ich verstand auch Mutters Ungeduld wegen der Wildheit und Unberechenbarkeit von Blumen – eine Blume konnte einfach etwas machen, was Mutter weder erwartete noch beabsichtigte. Wenn sie eine rosarote Banks-Rose gepflanzt hatte und eine rote Blüte erschien, schob sie das auf den Boden oder den Dünger oder die Feuchtigkeit.
Flache, kantige Kalksteine begrenzten die Wege zwischenden Blumenbeeten. Zwischen den Platten wuchs Moos: Sphagnum – sogar Moos hat einen »richtigen« Namen. Mutter war der Auffassung, alle Lebewesen hätten einen gewöhnlichen Namen und außerdem noch einen kultivierten.
Ellie , hatte sie einmal zu mir gesagt. Ja, wir nennen dich Ellie, aber dein Name ist Lillian. Vergiss das nie. Wir rufen dich bei deinem gewöhnlichen Namen, aber dein wahrer Name bedeutet Unschuld und Schönheit. Und egal, wie man dich nennt, du bist, wie du heißt: Lillian.
Eines Tages – ich muss noch sehr klein gewesen sein – war das Wetter kalt und klar. Ich spazierte neben Mutter her, die die Rosenbüsche zum Schutz gegen den Nachtfrost mit Stoff abdeckte. Dabei murmelte sie die botanischen Namen vor sich hin, als würde sie liebgewonnene Kinder ins Bett bringen und Abendgebete sprechen. Ich war eifersüchtig, wie Kinder es eben sind, wenn die Welt sich nicht um sie dreht.
Zitternd folgte ich Mutter. Sie beachtete mich nicht und nahm auch nicht wahr, dass mir kalt war, sie hatte nur Augen für die Blumen. Oh, wie sie die bewunderte und wie zärtlich sie ihre wahren Namen aussprach. Ich rannte weg, ich kann mich nicht mehr erinnern, wohin ich wollte, aber ich wusste, was ich wollte: Wärme, Mitgefühl und jemanden, der meinen Namen »so«
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