Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
Vom Netzwerk:
eins drauf und fühlte sich sehr schlau. Als es endlich aufhörte zu regnen, nahm ich noch einen letzten Schluck von meinem Kaffee, legte einen Zwanzigerschein unter die Zuckerdose und ging zur Tür (erhaschte, als ich an dem Tisch der Alten vorbeiging, einige Mutmaßungen über den genauen Farbton meines Hinterns). Vor dem Hin ausgehen hielt ich einen Augenblick inne und betrachtete die Straße: Die Stadt Mexiko wird in nassem Zustand wieder zu dem Tal, von dem Cortés, Juan Zorrilla oder Velasco hingerissen waren. Ich hob die Kamera, richtete sie auf einen rousseauhaften Fußgänger, der in diesem Augenblick über eine Pfütze sprang, und drückte ab.
    *
    Merke (Owen schreibt): Der Büromensch erträgt gewöhnlich die schändlichen Folgen des Regens mit christlicher Ergebenheit und schickt sich in aller Ruhe an, von seiner Wohnung ins Büro zu gehen, betritt sorgsam das Trottoir, weicht Schlammpfützen und Schlaglöchern aus mit Gleichgewichts übungen, die ihn in einen sentimentalen und philosophischen Zustand versetzen.
    *
    Heute fand ich Rousseaus Meditationen auf dem Nachttisch meines Mannes. Er behauptet, sie für sein Drehbuch zu brauchen.
    *
    Eines Abends dann wollte Enrico mit mir schlafen. Kennst du Inés Arredondo?, fragte ich ihn, während er mein Bein streichelte. Er kannte sie natürlich nicht. Du musst ihre beste Geschichte lesen, ich geb sie dir. Sie heißt
La Sunamita
, und es geht um eine junge Frau, die ihren Onkel in der Provinz besucht. Der Onkel liegt im Sterben und hat sie kommen lassen, weil er ihr seinen ganzen Besitz vermachen will. Er zwingt sie dazu, ihn zu heiraten und in seinem Sterbebett zu schlafen. Dank der vitalen Präsenz der Nichte geht es dem Onkel besser und besser, bis er sich vollständig erholt hat. Enrico streichelte mich; ich ließ es geschehen, aus Mitgefühl. An jenem Abend ging ich nach dem Essen zurück in meine Wohnung, weinte ein wenig und masturbierte, während ich Owens Foto musterte.
    *
    Schrecklich, das mit der Masturbation und dem Foto, meint mein Mann. Ich bin verärgert und wehre mich wie eine Kakerlake; um seinen Vorhaltungen nicht weiter zuhören zu müssen, lese ich laut aus einem Prospekt vor, den uns der Frösche und Madagaskar-Kakerlaken züchtende Nachbar geschenkt hat:
    Wenn die Riesenkakerlake aus Madagaskar angegriffen oder gestört wird, drückt sie sich flach auf den Boden oder die Unterlage und stößt plötzlich die in ihrem Atmungssystem gespeicherte Luft aus; so wird ein beunruhigendes Schnauben erzeugt, das den Angreifer abschrecken soll.
    *
    Ich brachte White das vollständige falsche Original. Tatsächlich hatten wir – dem ruchlosen Moby sei Dank – etwas hergestellt, das würdig war, einem waschechten Sammler verkauft zu werden. Ich sagte White, wir könnten das Exemplar nicht lange behalten – ich hatte Angst, er könne einen Experten auftreiben und feststellen, dass es sich um ein gefälschtes Dokument handelte –, da ich es an die Bibliothek der Casa Hispánica zurückgeben müsse. White versprach mir, bis zum nächsten Montag eine Entscheidung zu fällen, und gab mir den Rest der Woche frei.
    *
    Der Film, den mein Mann schreibt, spielt in Philadelphia. Er hat eine Kopie des Drehbuchs auf seinem Schreibtisch liegen lassen, und jetzt bin ich diejenige, die etwas sucht. Ich habe alles gelesen. Es ist fast fertig, aber ich weiß nicht, wie es enden wird. Ein Junggeselle in den Fünfzigern liegt in seiner Wohnung, todkrank, und beobachtet durchs Fenster obsessiv eine junge Frau. Sie wohnt im Hotel gegenüber. Mehr will ich nicht wissen.
    *
    Merke (Owen an Josefina Procopio, Philadelphia, 1948): Da der 4. dieses Monats ein Sonntag war, ist morgen logischerweise Dienstag der 13., und ich muss an einem Dienstag, den 13., sterben. Aber wenn ich morgen nicht dran bin, wird der Tod auf mich warten müssen, oder ich auf ihn, denn das Rendezvous findet dann nicht mehr in diesem Jahr statt.
    *
    In meiner freien Woche trafen Dakota und Moby in meiner Wohnung zusammen. Beide auf einmal konnte ich nicht ertragen, also beschloss ich, nach Philadelphia zu fahren, Laura und Enea zu besuchen und nachzusehen, ob es im mexikanischen Konsulat ein Archiv gab mit Dokumenten zu Owen. Wir haben zu dritt gefrühstückt, und dann bin ich gegangen. Moby würde das ganze Wochenende in Unterhose verbringen. Dakota würde ständig in der Badewanne liegen. Irgendwann am Samstag könnte Moby ins Bad gegangen sein und Dakotas Wäsche auf dem Boden neben der Toilette

Weitere Kostenlose Bücher