Die Schwerelosen
viele Kilo er pro Woche verlor, wurde ihm nie klar.
*
Bevor wir in dieses Haus zogen, wohnten wir in einer kleinen, sehr dunklen Erdgeschosswohnung. Mein Mann, das mittlere Kind und ich. Tageslicht fiel nur ins Badezimmer, in dem auch die Waschmaschine und die Badewanne standen sowie ein offener Schrank voller Medizin und Cremedosen, die wir nie benutzten, und manchmal Kaffeetassen oder schmutzige Socken, die ihren Partner verloren hatten. An dem Tag, als wir den Schwangerschaftstest machten, setzte sich mein Mann auf die Waschmaschine, während ich pinkelte. Das Bad war unser erwachsener Schlupfwinkel, und das waren unsere Plätze, das Klosett und die Waschmaschine: Dort trafen wir Entscheidungen, dort stritten wir, damit das Kind uns nicht hörte. Den ersten Teststreifen habe ich gewissermaßen ertränkt, sodass er nicht mehr taugte. Mein Mann musste hinaus, um einen neuen zu kaufen. Solange er unterwegs war, stopfte ich alle schmutzige Wäsche, die in der Wohnung herumlag, in die Maschine. Und steckte noch die Küchenlappen,unsere Bettwäsche und einen Plüschbären dazu. Das mittlere Kind, das damals nur das Kind war, beschäftigte sich im Wohnzimmer mit Videospielen. Ich gab ihm einen Kuss aufs Haar und verschwand wieder im Badezimmer. Als mein Mann zurückkam, setzte er sich auf die laufende Waschmaschine und ich machte Pipi, drei Tropfen Pipi. Diesmal zerstörte ich nichts. Ich klappte den Klodeckel runter, stellte die Probe drauf, setzte mich auf den Wannenrand und wartete, den Kopf auf einen der Schenkel meines Mannes gelegt, die vom feucht uterinen, schwerfälligen Kreisen der schnurrenden Maschine leicht gewiegt wurden.
Du bekommst ein Schwesterchen oder ein Brüderchen, verkündeten wir dem Kind, das immer noch mit den Videospielen zu Gange war.
Schade, sagte er, ich wollte ein Kaninchen haben.
*
Ich aß mit Enrico Spaghetti. Seine Wohnung im zehnten Stock war mit Büchern, Tassen, Archiven vollgestellt, mit unnützen Sachen. Man hätte sich gewünscht, dass jemand eine erzählerische Ordnung in diese Wohnung brächte. Ein Bücherschrank war bis oben mit 33er-Schallplatten gefüllt, aber man konnte sie nirgendwo mehr abspielen. Enrico holte sie heraus, während er das Essen zubereitete. Diese hier ist ein Juwel, die ersten Lieder von Roberto Murolo. Ich schaute mir das Verzeichnis an, Seite A, Seite B: Ich kannte kein einziges. Das hier musst du aber kennen, auch ein Neapolitaner. Und diese hier müssen wir uns mal zusammen anhören. Der kleinePlattenberg wuchs auf dem Esstisch an. Als das Essen fertig war, brachte Enrico die Platten wieder an ihren Platz. Während wir aßen, erzählte ich Enrico – eine vielleicht kleinliche Art, für Ausgleich zu sorgen – von lateinamerikanischen Schriftstellern, die er nicht gelesen hatte.
*
Es gibt süße Tamales zum Abendessen. Während des Essens sprechen wir erst über die Bombe von Hiroshima, weil der Mittlere wissen will, was eine Atombombe ist, und dann über den Sänger von Joy Division, dessen Name uns nicht einfällt. Der Mittlere unterbricht uns nach einer Weile:
Kann ich auch mal was sagen?
Ja.
Ich wollte sagen, dass ich das Ende von
Cloudy with a Chance of Meatballs
nicht gesehen habe, weil ich eingeschlafen bin.
*
Die Männer, mit denen ich schlief, pennten immer gleich nach dem Sex ein, während ich an einer unbezwingbaren Schlaflosigkeit litt, besonders dann, wenn es der betreffenden Person gelungen war, mich zufriedenzustellen. In jener anderen Stadt, in jener Wohnung, schlüpfte ich einfach aus dem Bett und setzte mich an meinen Schreibtisch. Ich studierte das Porträt von Owen; im Herbst der gelben Merkblättchen, die sich in den Zweigen des toten Baumes ausbreiteten, schaute er mich an wie eine apokryphe Frucht.
Owen hatte ein durchgeistigtes Gesicht, entrückt undleidend, wie ein Glaubensmärtyrer; kantige Backenknochen, spitz zulaufendes Kinn, zu kleine Augen, diese unmögliche, urmexikanische Geometrie. Der Körper schlaff, kraftlos, demütig. Indianische Züge und kreolische Attitüde: Keines der Teile harmonierte mit dem Ganzen. Ich habe einmal sagen hören, die Persönlichkeit bestehe aus einer ununterbrochenen Folge geglückter Gesten. Aber dem Mann, den das Bild zeigte, schien das Gegenteil zu widerfahren: Risse und Diskontinuitäten waren ihm anzumerken. Betrachtete man ihn von Nahem, konnte man ohne Weiteres ahnen, wo er gewisse Schwachstellen unter Versatzstücken anderer Persönlichkeiten, die fester und sicherer als
Weitere Kostenlose Bücher