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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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als von seinen Worten, all das hatte
verursacht, dass ich diese unerwartete Wende unseres Treffens und den
überraschenden Tonfall des Gesprächs als natürlich empfand. Wir traten ins
Haus, wo uns tiefe Stille empfing. Das Radio schwieg, die Nimrods pafften
wortlos an ihrem Tisch und hoben leise ihre Weingläser, der von der
Leidenschaft der Fotografie ergriffene alte Beamte beugte sich wie ein
ertappter Schüler schützend über seine Alben und hatte sichtlich keine Lust zu
irgendwelcher Konversation. Der Tannenbaum stand, geschmückt mit roten Äpfeln
und weißen Kerzen, auf einem Tisch mitten im Speiseraum, die Gastwirte zeigten
mit entschuldigender Bewegung, dass sie an diesem Abend für mich an Z.s Tisch
gedeckt hatten, weil der Weihnachtsbaum meinen Platz einnahm; und Z. lud mich
mit einer höflichen Bewegung an seinen Tisch ein. Das Abendessen war reichlich,
als bemühte sich der Gastwirt, mit den Freuden der Küche wiedergutzumachen, was
seinen Gästen an diesem Tag Betroffenheit, Abscheu und Enttäuschung beschert
hatte. In der missgelaunten Stille aßen wir eilig zu Abend und waren noch nicht
einmal mit den fettigen Gerichten fertig, als sich der Fotograf und
Kunstliebhaber verabschiedete. Sofort danach machten sich auch die Jäger auf –
still und verlegen wünschten sie eine gute Nacht und frohe Feiertage und eilten
auf ihre Zimmer. Vorsichtshalber nahmen sie noch eine unangebrochene Flasche
Wacholderschnaps mit. Es mochte neun Uhr sein, als das Abendessen abgetragen
wurde, und wir blieben an Z.s Tisch allein im Speiseraum sitzen.
    Â»Sind Sie müde?«, fragte er freundlich. Ich beruhigte ihn, dass ich
nicht müde sei, und sagte: »Ich glaube, mit einem Glas leichten Sandweines
könnten wir diesen traurigen Abend dennoch feiern.« Und er bat die Serviererin
um weißen Wein und Stahlwasser.
    Â»Frohe Weihnachten«, sagte er ernst, als Wein und Wasser gebracht
wurden, und hob das Glas.
    Â»Frohe Weihnachten«, erwiderte ich.
    Wir schwiegen. Wir beide waren die Einzigen in dem Raum.
    Â»Frohe Weihnachten«, sagte er noch einmal ruhig und stellte das
Stielglas auf die karierte Tischdecke. »Was für ein großes Wort das ist, wie
schön es klingt. Sein Klang ist so ernst und voll wie eine Bach-Fuge.«
Ehrliches, wohlwollendes Interesse klang in seinen Worten. »Wäre es gut zu
verstehen, was mit den Menschen geschieht?«, fragte er vertraulich und beugte
sich im Sitzen vor; mit kalt glänzenden Augen musterte er mich neugierig und
forschend.
    Â»Mit den Menschen? An wen denken Sie?«, fragte ich zurück. »An die
Unglücklichen, die in der vergangenen Nacht ein plumpes Abenteuer überfahren
hat, dieses groteske Unglück der Leidenschaft?«
    Er stützte den Ellbogen auf die Knie, beugte sich nah zu mir und sah
mich mit einem kalten, starren Blick an, der vor kühlem Licht brannte wie die
Augen eines Tieres im Dunkeln. Lange antwortete er nicht.
    Â»Alle Menschen«, sagte er langsam und gedehnt, »müssen eines Tages
die Leidenschaft auf sich nehmen wie ein Kreuz. Nur im Feuer werden Menschen
und Welt von der Sünde gereinigt. Glauben Sie, die Welt brennt ohne Grund,
jetzt, in jeder Stunde, bei Tag und Nacht?«
    Dies fragte er aus einer solchen Nähe, in so beunruhigendem Tonfall,
dass ich erschauderte, mir lief es kalt über den Rücken, im wahrsten Sinne des
Wortes. »Was wollen Sie sagen?«, fragte ich verlegen.
    Reglos, den Kopf seitlich geneigt und in die Hand gestützt, sah er
mich starr an – und dieser Blick war so drängend wie eine Frage. Alles, was in
dieser Situation unbequem und übertrieben war, schmolz in der sengenden Hitze
dieses Blickes. Niemals, bei keiner Begegnung hatte ich eine solch sonderbare
Nähe gespürt wie an diesem Abend, in diesem Augenblick. Ich kann dem Gefühl
keinen Namen geben, ich erinnere mich nur, dass mich eine außerordentliche
Erregung des Wartens ergriff. Dies war einer der seltenen Momente im Leben, in
denen ein Mensch dem anderen mit der Kraft der Leidenschaft, der Besessenheit
oder des Glaubens etwas von dem verborgenen Sinn der Welt aufdeckt; so empfand
ich es damals. Alles, was an diesem Tag geschehen war, und alles andere, was
gerade in der Welt geschah, mischte sich eigentümlich in Z.s Worten.
    Â»Ich will sagen«, antwortete er gedehnt, »dass ich durch den Willen
der Leidenschaft schon am jenseitigen Ufer war.

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