Die Schwester
Für einen Menschen ist dies der
einzige begehbare Weg, wenn er erlöst werden und zu Gott gelangen will. Und wer
will nicht erlöst werden?«, fragte er ruhig. Und als ich schwieg, fuhr er fort:
»Wahrscheinlich ist es auch kein Zufall, dass wir beide hier auf dem Berg
zusammengekommen sind und hier diesen Heiligen Abend gemeinsam verbringen. Sie
kannten eine Mitwirkende meiner Geschichte.«
Ich verstand, dass er an die Dame dachte, in deren Salon wir uns vor
vielen Jahren getroffen hatten, und bedeutete ihm, dass ich seine vertraulichen
Worte zu deuten wüsste.
Die nachfolgende Stille war tief und dicht. Verstohlen sah ich auf
meine Armbanduhr. Es war bereits nach neun Uhr â hier auf dem Berggipfel wurde
die Zeit anders gemessen als in der Stadt, und an den vergangenen Abenden hatte
ich mich um diese Zeit meist schon von der Gelegenheitsgesellschaft
verabschiedet. Aber jetzt hätte ich es als taktlos empfunden fortzugehen. Ich
weià selbst nicht, was ich erwartete, vielleicht etwas wie ein nächtliches
Gespräch, was mich nach dem Vorausgegangenen nicht überrascht hätte, oder ein
groÃes Bekenntnis als pathetische Beendigung dieses Tages. Aber Z. war verstummt.
Dann â zu meiner Ãberraschung â gähnte er ausgiebig.
»Ich bin müde«, sagte er, streckte sich und stand auf. »Was für ein
Tag das war! Haben Sie die Zeitungen gelesen? Auf einem entfernten Erdteil
vernichtet ein Erdbeben die Städte, in einer nahen Hafenstadt auf dem Balkan
wurde die Pest festgestellt, am Vormittag haben die Bomben wieder eine
europäische Stadt zerstört. Krieg, Seuche, Erdbeben, alles trifft wunderbar
aufeinander. Ja, dies sind die Zeichen der Apokalypse.« Er gähnte wieder. Jetzt
fehlte seiner Stimme jede dramatische Spannung, er sprach gleichmütig, als
stellte er Berechnungen an über das Ergehen der Welt und zuckte ohnmächtig mit
den Schultern. Und dann sagte er unvermittelt: »Es ist klüger, wenn wir uns
hinlegen. Dieses Weinchen ist es wirklich nicht wert, dass wir bei ihm wachen.«
Er ging zur Tür. Ich stand auf und folgte ihm langsam.
»Ich dachte«, sagte ich in der Tür, »Sie wollten noch etwas sagen.«
Er blieb auf der Schwelle stehen und sah mich erstaunt an. »Sagen?
Was könnte ich sagen? Wir haben einander doch alles gesagt.« Nachdenklich sah
er an die Decke und schüttelte den grauen Kopf. »Nein, mein lieber Freund, ich
weià wirklich nicht, was ich noch sagen könnte. Was können wir Menschen
einander sagen? Es hilft ja nichts.« Nun sprach er lebhafter: »Sie haben heute
gesehen und erlebt, dass nichts hilft. Die unverständliche und wilde
Leidenschaft reiÃt die Menschen aus ihrem Schicksal heraus, die Revolte der
Elemente vernichtet die menschliche Welt, im GroÃen und im Kleinen ist es immer
dasselbe Drama, hier auf dem Berg das dissonante Trauerspiel einer kranken Frau
und eines dummen Mannes, unten im Tal die Schicksalstragödie der winselnden,
vor ihrem Verhängnis wimmernden Menschheit. Ãberall die Zerstörung, weil die
Menschen Gott nicht mehr kennen. Wollen wir darüber sprechen? Wollen wir klagen
wie ein griechischer Chor? Aber Sie wissen das alles ja auch. Sie sind
Schriftsteller, Sie müssen wissen, dass der Mensch ohne Gottes Hilfe keine
Zuflucht auf Erden hat.« Wieder zuckte er mit den Schultern und machte sich auf
den Weg. Doch auf der ersten Treppenstufe blieb er noch einmal stehen und
wandte sich um.
»Wie lange bleiben Sie hier?«, fragte er ruhig.
Im Haus, so schien es, schliefen schon alle. Ich antwortete
halblaut, dass ich noch zwei Tage bleiben und am zweiten Feiertag nach Hause
fahren würde. Z. nickte. »Am Ende der Woche reise ich auch ab«, sagte er. »Ich
gehe in die Schweiz, für lange Zeit.«
Ich antwortete etwas in der Art, dass sich alle seine Anhänger
freuen würden, wenn sie ihn wieder am Klavier sehen könnten. Im Halbdunkel sah
er mich mit nachdenklichem, forschendem Blick an.
»Am Klavier? Mich?«, fragte er, und in seiner Stimme klang ein so
ehrliches Staunen, als hätte ich ihm kränkende und unmögliche Dinge
unterstellt; als hätte ich ihm zugetraut, heimlich Laubsägearbeiten zu machen
oder Bären zu zähmen.
»Ich dachte, Sie geben in der Schweiz Konzerte«, sagte ich verlegen.
Er zog eine Taschenlampe heraus, rückte die Batterie zurecht und
lieà den Lichtstrahl der Lampe
Weitere Kostenlose Bücher