Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
Vom Netzwerk:
aufblitzen, als suchte er etwas am Boden.
»Konzerte, ich?«, murmelte er zerstreut und betrachtete die Treppe.
Unvermittelt sah er mich mit erhobenem Kopf an und leuchtete mir zugleich mit
der Lampe ins Gesicht. »Wissen Sie es denn nicht?«, fragte er lauter, als zweifelte
er an meinen Worten und beleuchtete deshalb mein Gesicht. »Ich werde nie wieder
ein Konzert geben.«
    Als er verstummte und seine Worte nicht erklärte, erwiderte ich
verlegen, dass ich über seine Absichten nichts wüsste.
    Â»Meine Absichten«, sagte er gleichmütig. »Ich habe keinerlei
Absichten. Ich kann nur nicht mehr spielen. Nie wieder«, sagte er ruhig.
    Â»Was ist geschehen?«, fragte ich halblaut, erschüttert.
    Â»Nun, das«, antwortete er und hob die rechte Hand. Drei Finger
knickte er ein und hielt mir den kleinen Finger und den Ringfinger direkt vor
die Augen. Ich sah keinerlei Verletzung an ihnen.
    Â»Haben Sie Schmerzen in der Hand?«, fragte ich verwirrt.
    Â»Nein, sie tut nicht weh«, antwortete er. »Sie ist gelähmt. Diese
beiden Finger sind gelähmt. Ein ganz kleiner Nerv geht hier entlang«, sagte er
mitteilsam, freundlich, als vermittelte er einem Uneingeweihten eine elementare
Kenntnis. »Ein Bewegungsnerv, der diese beiden Finger versorgt. Dieser Nerv ist
abgestorben, in der Krankheit verbrannt. Ich kann mich nie wieder ans Klavier
setzen.« Er sprach ohne Betonung. Als wartete er geduldig auf die Fragen eines
neuen Schülers, sah er mich mit abwartendem, freundlichem Blick an.
    Â»Wann ist das geschehen?«, fragte ich sehr leise.
    Â»Vor drei Jahren«, antwortete er. »Vor drei Jahren und vier Monaten.
Im September, als der Krieg ausbrach. Wussten Sie es nicht?«, fragte er und
spielte mit der Lampe, löschte das kleine Licht, entzündete es wieder.
    Â»Nein«, sagte ich beschämt. Und als wollte ich ein Versäumnis
erklären, murmelte ich entschuldigend: »Ich wusste nur, dass Sie sich
zurückgezogen haben, selten auftreten, dass Sie sich mit der Lehre
beschäftigen.«
    Er zuckte mit den Schultern: »Von irgendetwas muss ich ja leben.«
Dann ging er langsam die Treppe hinauf.
    Wortlos stolperte ich ihm nach. Auf dem Flur im Obergeschoss gingen
wir an der versiegelten Tür vorbei – an dem Zimmer, in dem sich das nächtliche
Drama abgespielt hatte. Z. blieb nicht stehen, ruhig ging er weiter. Am Ende
des Flures, vor meinem Zimmer, wandte er sich um und reichte mir die Hand.
    Â»Gute Nacht!«, sagte er unmittelbar und warm. »Wir hatten einen
schweren Tag, nun lassen Sie uns schlafen.«
    Ich drückte seine Hand und ließ sie nicht los: »Was ist mit Ihrer
Hand geschehen?«, fragte ich halblaut. »Können Sie es sagen?«
    Â»Das habe ich doch gesagt«, antwortete er geduldig. »Vor drei Jahren
wurde ich krank. Ich lag lange in einem Krankenhaus in Florenz. Zwei Finger
blieben gelähmt. Das ist alles.«
    Wir schwiegen.
    Â»Ich wusste nichts von alledem«, sagte ich.
    Â»Nun, man brüstet sich nicht mit so etwas«, erwiderte er freundlich.
»Es ist mir gelungen, aus den Konzertsälen zu verschwinden, ohne dass ein Hahn
nach mir gekräht hätte. Auch daran können Sie sehen, was das Ganze wert ist.«
Und leise, seltsam brummend lachte er.
    Â»Das Ganze? Was?«, fragte ich.
    Â»Nun, der Ruhm, die Welt.« Er zuckte mit den Schultern.
    Â»Aber das ist ja abscheulich«, sagte ich unwillkürlich. »Sie können
sich nicht mehr ans Klavier setzen.«
    Mit seitlich geneigtem Kopf sah er mich ernst an.
    Â»Abscheulich?«, fragte er gedehnt und gleichmütig. »Vielleicht wäre
es abscheulich, wenn es unerwartet auf einen einschlüge. Aber es hat alles
seine Regel und Ordnung. Bis man in einer Situation versunken ist, vergeht viel
Zeit, und wir gewöhnen uns an die Veränderung. Stellen Sie sich nur vor«, er
sprach jetzt lebhafter, »der Menschheit wäre vor fünf Jahren all das klar
geworden, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, vielleicht hätte es die
ganze menschliche Rasse in den Wahnsinn getrieben. Weil aber alles nach und
nach eingetreten ist, haben wir uns daran gewöhnt. Und wir werden uns auch an
das gewöhnen, was noch kommen wird.«
    Ich ließ seine Hand los und stand ratlos im Dunkeln.
    Â»Was hatten Sie?«, fragte ich dann. Dieses geheimnisvoll geflüsterte
Gespräch auf dem Flur des Hotels war, als unterhielten

Weitere Kostenlose Bücher