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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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sich zwei Komplizen über
ein altes Verbrechen.
    Â»Eine Krankheit«, erklärte er schlicht. »Sie hat auch einen Namen,
einen sehr schönen sogar. Aber dieser Name ist nur ein Abfalleimer, alles
Mögliche wird hineingeworfen. Die Wirklichkeit ist die Krankheit, nichts
anderes. Und die Wirklichkeit ist auch, dass man mir die Musik genommen hat.
Jetzt muss ich leben, wie ich kann. Deshalb reise ich in die Schweiz.«
    Ich fragte ihn, ob er wünsche, dass ich meinen Schweizer Freunden
schriebe; vielleicht kannten sie eine Heilmethode, die bei seiner Lähmung
helfen konnte?
    Â»Ich glaube nicht«, sagte er ruhig. »Aber danke für Ihren guten
Willen. Mir kann niemand helfen. Denn nicht nur die Musik hat mich verlassen,
zugleich habe auch ich die Musik verlassen. Dafür gab es einen Grund. Und diese
beiden, die Krankheit und meine Flucht vor der Musik, hingen zusammen. Diese
Lektion«, sagte er noch, »habe ich gründlich gelernt. Vierzehn Milliarden
Nervenzellen gibt es im menschlichen Organismus, und diese Zellen erneuern sich
nie. Wenn eine Nervenzelle einmal zerstört ist, kann man sie nicht wieder zum
Leben erwecken. Die Blutzellen, das Gewebe, die Knochen, alles kann sich
erneuern, aber die Nervenzellen sind einmalig. Vierzehn Milliarden!« Er lachte.
»Eine schöne Zahl. So reich sind wir. Denken Sie nur, vierzehn Milliarden
Fotozellen, und in jeder eine Erinnerung, ein Reiz, kleine Fotografien, und sie
alle schaltet der Verstand; uns kommt ein Gesicht aus Kindertagen in den Sinn,
dessen Andenken in irgendeiner Nervenzelle lebt. Mir fehlen nur die paar
Hunderttausend Nervenzellen, die die beiden Finger der rechten Hand bewegen.
Ansonsten bin ich vollkommen genesen. Ich könnte auch sagen, ich hatte Glück,
andere bleiben nach einer solchen Krankheit für ihr ganzes Leben gelähmt, sie
können nicht gehen, müssen gefüttert werden, können manchmal nicht einmal
schlucken oder sprechen, werden taub. Zu mir war die Krankheit gnädiger. Sie
hat mir nur die Musik genommen.« Er sagte das mit natürlicher und großmütiger
Ergebenheit, wie ein König im Exil sprechen kann, wenn er feststellt, dass man
ihm nur sein Reich genommen hat.
    Â»Ja«, sagte ich verlegen. »Jetzt verstehe ich. Nun, so sieht
natürlich alles anders aus.«
    Aber er ließ nicht zu, dass ich es mit diesem Gemeinplatz beendete.
»Bedauern Sie mich nicht«, sagte er lebhaft. »Die Krankheit gibt genauso viel,
wie sie einem nimmt.«
    Â»So viel wie die Musik?«, fragte ich taktlos.
    Â»Anderes, aber genauso viel«, sagte er eigensinnig. »Ich habe es
einmal aufgeschrieben. Ich wollte all das verstehen, was geschehen war, deshalb
habe ich es niedergeschrieben. Ich habe jetzt nichts anderes zu tun. Möchten
Sie es lesen? Ich kann mich keines literarischen Werts rühmen, da kann ich
Ihnen nichts versprechen. Aber Sie, als Schriftsteller, werden es vielleicht
verstehen.« Er seufzte. »Es ist in der Tat sehr schwer, unsere Erfahrungen
anderen weiterzugeben. Ich meine, das, was geschehen ist, können wir vielleicht
aufschreiben, wie man einen Sichtbefund notiert. Aber das, was der Grund für
alles war, das ist sehr schwer niederzuschreiben. Beinahe unmöglich. Die
Schriftsteller tun mir leid.«
    Ich versuchte in scherzhaftem Tonfall zu antworten, dankte ihm im
Namen der Schriftsteller für seine Anteilnahme, die berechtigt sei, und fügte
an, natürlich werde es mir eine Freude und Ehre sein, gelegentlich seine
Aufzeichnungen lesen zu dürfen.
    Â»Ja«, sagte er und reichte mir noch einmal energisch die Hand.
»Später. Sehr gern. Gute Nacht!« Und er ließ mich auf dem Flur stehen; ohne
sich umzusehen, ging er in sein Zimmer. Ich hörte, wie er die Tür abschloss.

2.
    Zwei Tage später reiste ich vom Berggipfel ab. Die
Feiertage waren im funkelnden Gebirgssonnenschein vergangen. Am Sonntag waren
Gäste aus dem Tal angekommen, der Gastwirt konnte das Schild »Belegt«
hinaushängen. Jäger und Wanderer gaben einander die Klinke in die Hand, und die
beiden Nimrods hatten am Tag nach Weihnachten ein triumphales Jägerfest
improvisiert, weil der eine von ihnen, der Lange, am Nachmittag den ersten
Auerhahn seines Lebens erlegt hatte. Der Herr, den die Leidenschaft für die
Fotografie nicht ruhen ließ, kehrte mit ähnlich reicher Beute von den
sonnenbeschienenen Lichtungen zurück, stundenlang schloss er

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