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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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sich in dem
einzigen und heruntergekommenen Badezimmer des Hotels ein und entwickelte im
Licht einer mit rotem Zellophanpapier abgedeckten Petroleumlampe Dutzende
seiner wildromantischen Aufnahmen. Die Siedlung füllte sich mit Leben, mit
schrillen Klängen. Von den Toten sprachen nur die Neuankömmlinge, die Besucher,
die Feiertagsausflügler aus dem Tal, die heraufgekommen waren, um den
Schauplatz der landesweit bekannten Ereignisse auf dem Berggipfel zu
besichtigen. Die Legende vom geplanten Verbrechen, die wie in ähnlichen Fällen
unweigerlich zu keimen und zu sprießen begann, war bereits in die Empfangsrede
des Gastwirts eingebaut worden und wurde mit jeder neuen Rede um einige
Schattierungen reicher. Alle wussten nun, dass das Paar traurigen Angedenkens
schon bei seiner Ankunft »verdächtig war«, dass die Frau des Gastwirts an ihrem
Gepäck sofort gesehen hatte, dass »hier irgendetwas nicht in Ordnung ist« und
die Zimmermädchen erspäht hatten, wie die Unglücklichen »sich Tag und Nacht auf
den Tod vorbereiteten« – diese und andere, mit feinen Gemeinheiten und
Anspielungen gewürzte Bemerkungen unterhielten die Gäste, die alle Krumen
dieser herzhaften, seltenen Delikatesse gierig verschlangen. Aber wir anderen,
die wir Augenzeugen dieser düsteren und traurigen Weihnachtsüberraschung
gewesen waren, sprachen nicht mehr von den Toten. Ich war den ganzen Tag im
Wald unterwegs; die Landschaft war von ultravioletter Strahlung erfüllt. In der
Gastwirtschaft verlor ich möglichst wenig Zeit; ich bemühte mich, die
unerträglich lauten halben Stunden des Essens rasch hinter mich zu bringen; die
Ausflügler aus dem Tal füllten das Hotel mit dem Lärm ihrer Ausflugslaune, und
der Besitzer konnte zu Recht hoffen, dass jedes Unglück sich einmal zum Guten
wendete; der Traum vom Betongebäude und vom »Danßing« bei rotem Licht war
vielleicht doch keine völlig eitle Verzückung. Das Wetter blieb kalt, aber in
den Mittagsstunden streiften wir ohne Mantel auf den sonnenbeschienenen
Bergwegen umher.
    An diesen beiden Tagen sah ich Z. nur bei unseren gemeinsamen
Mahlzeiten – am Morgen nach dem weihnachtlichen Gespräch hatte er mich
freundlich und reserviert begrüßt, sich an seinem Frühstückstisch über die
Zeitung gebeugt und dann – gleichmütig und mit guten Manieren wie zuvor, und
als hätten wir uns in der vergangenen Nacht nicht über vertrauliche Dinge unterhalten!
– gegrüßt, den kurzen Mantel angezogen und war ohne Kopfbedeckung auf den Wald
zugegangen. Er kannte offensichtlich die Wege in dieser Gegend, hatte sich
eigene Pfade und Fährten im Wald ausgespäht, und so konnte es geschehen, dass
wir uns auch bei unseren Spaziergängen nicht trafen – der Wald war dicht, ein
unversehrter Urwald, auch bei Sonnenschein hütete ich mich, die Hauptwege zu
verlassen. So geschah es, dass ich die beiden Tage, die mir von dieser
Weihnachtserholung mit ihrer unglücklichen Wende und ihrem grotesken Ausgang
noch blieben, einsam verbrachte. Ich kann nicht sagen, dass Z. in diesen Tagen
einer Begegnung auswich; gewiss ist jedoch, dass er sie auch nicht suchte. Nach
all dem, worüber wir gesprochen hatten, wirkte diese Zurückhaltung, als bereute
er seine Mitteilsamkeit. Als würde er vom Katzenjammer geplagt. In
außerordentlichen Situationen werden Menschen manchmal zum Opfer des Pathos
dieser Situation. In einem Anfall von Vertrauen und Mitteilsamkeit breiten sie
vor Fremden ihre geheimen Gedanken aus, um dann am nächsten Tag mit schlechter
Laune, übertriebener Zurückhaltung und Schroffheit die Selbstvorwürfe zu
bemänteln, die sie wegen dieser anlassgebundenen Offenheit plagen. Vielleicht
ging es Z. so ähnlich, dachte ich. Was er über seine Krankheit, über die
Lähmung seiner Hand gesagt hatte, berührte mich tief, doch vielleicht noch mehr
erschüttert hatte mich die Weise, wie er über das große Unglück seines Lebens
berichtete. Sein Verschwinden, die gleichgültige Stille, die seine Person seit
Jahren umgab, dann diese unerwartete Begegnung auf dem Berggipfel, das
schreckliche Theater, dessen Augenzeugen und Statisten wir geworden waren, Z.s
plötzliche Mitteilsamkeit, all das passte in einer unverständlichen,
schrecklichen Ordnung zusammen. Als wäre das der Sinn dieser Weihnachtsreise
gewesen, dass ich die Wahrheit über Z.s

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