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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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aus der Mittagszeitung erfuhr, dass Z. in einem Schweizer Kurort
gestorben war. Die Notiz war kurz. Aber die Welt begann sich jetzt zu erinnern,
farbige Artikel, Würdigungen der Zeitgenossen riefen die Bedeutung des Werkes und
die Rolle des großen Musikers in Erinnerung. In diesen Tagen, als Woche für
Woche Weltstädte vernichtet wurden, berührte mich die Nachricht von Z.s Tod auf
besondere Weise. Ich dachte daran, dass das Schicksal stärker sei als alles und
dass ein Mensch, der aus der Gefahrenzone der Bomben auf eine der letzten
friedlichen Inseln gelangt war, dem Verhängnis ebenso den letzten Tribut
entrichtet hatte wie die anderen, die in diesen Monaten an einer der
Frontlinien des Krieges zu Hunderttausenden und Millionen ihr Leben verloren.
Z. war gestorben, in einem modern ausgestatteten und musterhaft geführten
Sanatorium der friedlichen Schweiz; und ich wusste nichts Genaues über die
Umstände seines Todes. Aber drei Wochen nach dieser Trauernachricht brachte die
Post einen dicken Umschlag. Absender war die Schweizer Botschaft, deren einer
Amtsträger mir mit offizieller Wortkargheit mitteilte, dass das im Nachlass des
im Sanatorium von X. verstorbenen ungarischen Pianisten Z. gefundene Manuskript
nach Bestimmung des Erblassers mir zustehe. Die Botschaft füge das Manuskript
bei und bitte um eine Empfangsbestätigung. Das war alles.
    Das war alles, und so sorgsam ich den Umschlag auch schüttelte und
in dem maschinengeschriebenen Manuskript blätterte, ich fand die paar Zeilen nicht,
auf die ich hoffte und die ich suchte; die Zeilen, die an mich persönlich
gerichtet waren, Z.s Zeilen, mit denen er mich ansprach, mich beauftragte und
mir gebot, dies oder jenes mit seinem Manuskript zu tun. Ich erkundigte mich,
ob es noch Verwandte oder Angehörige von ihm gab. In einem fernen Dorf lebte
eine verheiratete Tante, eine alte, einfache Frau, die schlicht und ahnungslos
auf meinen Erkundigungsbrief antwortete. Die Dame, in deren Gesellschaft ich Z.
kennengelernt hatte, war im zweiten Kriegsjahr mit ihrem Mann, dem Diplomaten,
ins neutrale Ausland gezogen. Ich erfuhr auch, dass Z. weder Freunde noch
Vertraute gehabt hatte, jedenfalls niemanden, der zu Recht hätte versichern
können, er kenne die Absichten des Verstorbenen und könne mir bezüglich des
Manuskripts einen Rat geben.
    Bei diesem Manuskript, das durch den Auftrag des Verfassers, aber
ohne Gebrauchsanweisung zu mir gekommen war, handelte es sich eigentlich um ein
Fragment; herausgerissene Seiten, Teil einer umfangreicheren Abfassung, vielleicht
aus einem Tagebuch oder aus Memoiren. Es hatte nicht so recht Anfang und Ende,
als wäre es einem Heft entnommen, das auch andere Aufzeichnungen enthielt. Ob
es ein Tagebuch war oder eine Lebenserinnerung, ob es für die Öffentlichkeit
angefertigt war oder nur für wenige Vertraute, ob Z. wollte, dass es auch
andere lasen, oder ob er diese Zeilen nur in äußerster seelischer Not zu Papier
gebracht hatte – all das konnte ich auch nach mehrfachem gewissenhaften Lesen
des Manuskripts nicht entscheiden. Aber gerade das mehrfache Lesen überzeugte
mich davon, dass es nicht gegen den Willen des verstorbenen Z. sein konnte,
wenn ich diese Seiten der Öffentlichkeit übergab. Wenn jemand den Stift in die
Hand nimmt, um seine Erinnerungen an vertrauliche Erfahrungen festzuhalten,
will er damit immer zu Menschen sprechen, auch wenn er die Mitteilungsform des
verschämten Tagebuches wählt; ja, die Literatur lehrt uns, dass auch die großen
Tagebücher für die Öffentlichkeit entstanden sind. Und dieses Manuskript mimte
nicht einmal die Gattung des Tagebuches. In Form eines Vortrags sprach es über
etwas, was für den Verfasser wichtig und erlebnisreich gewesen sein mochte.
Beim mehrfachen Lesen überzeugte ich mich schließlich davon, dass ich nicht
einmal das Recht hätte, diese Schrift für eine Privatangelegenheit zu halten.
Wenn ein Mensch am Rande seines Grabes mit aller Ehrlichkeit über das spricht,
was er im Leben als wesentlich erkannt hat, hofft er gewiss, dass sein
Bekenntnis den Menschen helfen kann. Vielleicht ist diese Hoffnung eitel, aber
von solch eitlen Hoffnungen nährt sich der Mensch in seinem elenden Schicksal.
Deshalb mache ich das Manuskript ohne Veränderungen publik und vertraue dem
Leser an, die Seiten durchzublättern und zu entscheiden, ob er über eine Privatangelegenheit
liest oder

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