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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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Schicksal erfuhr. Zugleich spürte ich,
wie vergeblich jede Bemühung ist, mit der wir uns dem Geheimnis eines Menschen
nähern. In Wahrheit wusste ich auch jetzt nichts Sicheres über Z.s Schicksal.
Das Unglück der Krankheit hat ihn aus den Konzertsälen vertrieben; aber warum
schreibt er nicht?, überlegte ich, denn Z. war nicht nur Vortragskünstler
gewesen, sondern auch Komponist, dessen Werke, insbesondere die französischen,
ungarischen und rumänischen Volksliedsammlungen und -bearbeitungen, in der Welt
der Musik hoch geschätzt und aufmerksam verfolgt worden waren. Und seit Jahren
keine Nachricht von dieser Arbeit, niemals eine Zeitungsnotiz, keine Kritik,
nichts! Was war mit diesem Mann geschehen? Ich vermutete, dass es noch etwas
anderes gab, als er gesagt hatte. Aber er schreibt ja!, fiel mir jetzt ein. Er
schreibt, er hat von einer Arbeit gesprochen, die »keinen literarischen Wert«
habe, und wenn ich möchte, würde er sie mir zeigen. Ich beschloss, seine
verlegene Zurückhaltung zu respektieren, ihn aber vor meiner Abreise trotzdem
an sein Versprechen zu erinnern und ihn um das Manuskript zu bitten, das er mir
vielleicht nur wegen seiner übertriebenen Bescheidenheit nicht zeigen wollte.
Denn an den beiden Tagen nach der nächtlichen Unterhaltung hatte Z. außer dem
Gruß kein Wort mehr an mich gerichtet. Er war genauso höflich, gemessen und
gleichmütig wie in den ersten Tagen unserer Begegnung auf dem Berg, als wäre
nichts geschehen, als hätten wir nicht in jener eigenartigen Weihnachtsnacht
über Krankheit, Tod und Schicksal gesprochen. Am Abend vor meiner Abreise hatte
ich also beschlossen, ihn im Speiseraum zu erwarten, mich von ihm zu
verabschieden und – wenn möglich – die Rede auch auf das Manuskript zu bringen.
Doch nun war es schon nach neun Uhr, und Z. war noch nicht bei Tisch
erschienen. Der Wirt berichtete mir, dass er abgereist sei.
    Â»Er ist nur für drei Tage fort«, sagte der Gastwirt. »Man hat aus
der Stadt einen Wagen nach ihm geschickt.«
    Ich erfuhr, dass Z. aus der nahen Kleinstadt ins Tal gerufen worden
war; auf die Reise nahm er jene »eigenartige Maschinerie« mit, die einem
Grammophon ähnelte, aber doch keines war – so unwissend sprach der Gastwirt,
halb hochachtungsvoll, halb geringschätzig, von dem Aufnahmegerät, das Z. bei
seinen Reisen zur Volksliedsammlung benutzte. Jetzt hatte man ihm in einem
nahen Székler-Dorf Weihnachtslieder versprochen, und weil man ihm auch einen
Wagen stellte, hatte er die seltene Gelegenheit genutzt und war ins Tal geeilt.
Ich fragte, ob er mir keine Nachricht hinterlassen hätte, einen Brief oder ein
Manuskript. Aber er hatte weder eine Nachricht noch etwas anderes hinterlassen.
Vielleicht hatte er sein Versprechen vergessen, vielleicht war es ihm übereilt
erschienen, und er hatte es später bereut und sich gefreut, dass ihm dieser
Ausflug die Möglichkeit gab, zu verschwinden. Ganz gleich, wie er dachte,
jedenfalls hatte sich Z. unerwartet entfernt, und ich reiste ab, ohne mich von
ihm zu verabschieden. Den Gastwirt bat ich, dem Professor meine Grüße
auszurichten und ihm eine Karte zu übergeben, auf die ich meine Anschrift und
Telefonnummer gekritzelt hatte.
    Aber Wochen vergingen, und Z. meldete sich nicht. In dieser Zeit
hörte ich nichts über ihn. In den Zeitungen wurde sein Name nicht erwähnt, und
ich traf keinen Bekannten, der mir Nachricht von ihm gegeben hätte.
Wahrscheinlich war er in die Schweiz gefahren. Im Geheimen hoffte er vielleicht
doch noch, dass die berühmten Schweizer Ärzte seine kranke Hand heilen würden.
Wochen vergingen, dann Monate, und das schwere Schicksal, das in dieser
fürchterlichen Zeit auf unser aller Leben lastete, begann Z. und die
beunruhigende Erinnerung an das eigenartige Weihnachten in meinem Bewusstsein
langsam zu verdecken. Das Unglück, das in dieser Zeit die gesamte Menschheit
bedrohte, war von solchen Ausmaßen, als fegte ein tektonischer Erdrutsch die
Oberflächen der bekannten Welt hinweg und veränderte sie. Ich vergaß Z. und die
tragischen Verliebten der Gebirgsweihnachten, und der schwarze Trauervorhang
des Unglücks verhüllte noch viele andere Erinnerungen – Erinnerungen an liebe,
sanfte und ergreifende Begegnungen, Situationen und Menschen. Monate waren
vergangen, genauer gesagt acht Monate, als ich an einem Herbsttag in der
Straßenbahn

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