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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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wenn er im Ring liegt, weil man ihm
einen Haken in den Magen versetzt hat. Dunkel erinnerte ich mich, dass
Magenhaken sogar tödlich sein können. Eigenartig, dachte ich, wann hat er mich
niedergeschlagen? Im Weißen Saal war noch nichts geschehen, ich hatte auch den
letzten Ton der Appassionata an seinen Platz gesetzt
– Allegretto ma non troppo  –, und jetzt in der Nacht,
im Krankenhauszimmer, hörte ich diesen Ton, aber nur wie die Schwingung einer
fremden Lauterscheinung, weit entfernt von meinem Körper und meiner Seele. Der
rote Fleck hatte bis zum letzten Augenblick im Weißen Saal geleuchtet. Was für
eine nette Frau das war; nicht auf Renoirs, sondern eher auf Bouchers
erotischen Bildern sehen die dicklichen, stupsnasig blonden Hirtinnen so aus,
unschuldig und verdorben. Wahrscheinlich hatte ich mich verneigt, wie es sich
gehörte; ich erinnerte mich, dass auch die Trägerin des roten Hutes applaudiert
hatte. Zwei weiße, weiche, rundliche Hände hatte ich gesehen; solche weiblichen
Hände vollbringen auf den Bildern von Boucher, mit zeremonieller und ernster
Feierlichkeit, allerlei Ungehörigkeiten. Dann trat ich aus dem Saal. Im
Künstlerzimmer dufteten Lorbeerbäume. Eine halbe Stunde später hatte man mich
hierher geschafft, der Professor brachte mich mit seinem Wagen, einen
Krankenwagen hatte man nicht gerufen. Ich saß neben ihm, er fuhr routiniert auf
den dunklen Straßen, wir unterhielten uns. Ich erinnere mich, dass ich ihn
wegen der nächtlichen Unannehmlichkeit um Entschuldigung bat, er mir höflich
versicherte, ich solle mich nicht schämen, sondern mich nur ganz nach meinem
Belieben krank fühlen. Wie ein Hausherr, der zu seinem Gast sagt: »Aber bitte,
fühlen Sie sich wie zu Hause, seien Sie nur ruhig krank bei uns, ganz wie es
Ihnen gefällt, sans façon , nicht wahr?« Diese
leutselige und wohlwollende Versicherung beruhigte und entwaffnete mich.
Wahrscheinlich hätte mich die Wut überwältigt, wenn mich in diesen Augenblicken
ein schlechter Arzt und dummer Mann ins Krankenhaus gebracht hätte, der mir
wichtigtuerisch versicherte, dass ich nichts Ernsthaftes hätte. Dieser Mann
tröstete mich nicht, auch später nicht, nie; immer sprach er sachlich mit mir,
über meine Krankheit und mein Schicksal, wie ein erwachsener Mensch mit einem
Erwachsenen über das Geschick spricht, männlich und einfach.
    Â»Ich glaube, ich bin sehr krank«, sagte ich im Automobil,
und er blickte auf den dunklen Weg, nickte und antwortete bereitwillig: »Ja, so
scheint es.« Er verachtete nicht den Kranken in mir, er hielt mich nicht für
ein Kind, auch nicht für schwachsinnig, er ließ mir gleichsam meinen
menschlichen Rang, und dafür war ich ihm dankbar.
    Â»Es gibt diese Sorte von unausstehlichen Ärzten«, sagte ich ihm,
»wissen Sie, der Wichtigtuerische und Unmenschliche, der in ein Zimmer kommt,
in dem ein Sterbender schon grün und blau ist und in den letzten Zügen liegt.
Und da sagt dieser Arzt, heiter und händereibend: ›Na, wie geht’s denn dem
kleinen Husaren?‹ Kennen Sie diese Sorte?«
    Er lachte.
    Â»Ja, ich kenne sie«, sagte er. Und wieder schwiegen wir und sausten
durch das nächtliche Florenz.
    Â»Ich habe starke Schmerzen«, sagte ich, sah für einen Augenblick aus
dem Fenster und erkannte das Gebäude der Signoria .
    Â»Ja«, sagte er entgegenkommend, »das sehe ich. Sie müssen
außerordentliche Schmerzen haben.«
    Er sprach über Tatsachen, ohne Emotion und Betonung, als sagte er,
mein Hut sei schwarz.
    Â»Wissen Sie«, sagte er dann freundlich und sah mich nicht an, mit
seinen weißen, alten Händen drehte er vorsichtig das Lenkrad, bog um eine
Straßenecke und stellte den Wagen vor einem großen Gebäude ab, »ich sage immer,
es gibt zwei Mittel, ohne die möchte ich nicht Arzt sein.«
    Er zog den Zündschlüssel heraus; das rätselhafte grüne Auge, das vom
Leben des Motors zeugte, erlosch.
    Â»Morphin«, sagte ich auf gut Glück.
    Er nickte. »Morphin, ja«, sagte er freundlich, öffnete die Autotür
und half mir auszusteigen. »Und doppeltkohlensaures Natron. Beides hilft mit
Sicherheit innerhalb von zwanzig Minuten.« Er nahm mich am Arm und begleitete
mich zum Aufzug.
    Jetzt erschien er wieder mit der Spritze. Es ging auf den Morgen
zu. Er blieb vor meinem Bett stehen, die Spritze in der

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