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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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Töne der Harfenetüde angeschlagen
hatten.
    Das ist der Augenblick der Auflösung. Ich kenne ihn gut. Der Pilot
muss sich so fühlen, wenn sich seine Maschine vom Boden gelöst hat und in dem
lauen Element dahingleitet. Jetzt war ich daheim, in meinem Element, in der
Musik; ich hatte mich vom Boden gelöst, jetzt musste ich mich, diesen Saal und
alles, was um uns herum noch an der Erde haftete, der Kraft der Musik hingeben,
damit alles fliegen konnte, in wunderbare Landschaften, auf dem Zauberteppich
der Musik. Noch hoben uns ruhige, leidenschaftslose Kräfte an, aber meine Hände
spürten schon, wie die Leidenschaftlichkeit des presto, des allegro, des agitato langsam
in Schwung kamen, ich hörte schon von Weitem das tiefe, geheimnisvolle Grollen
der Sturmetüde. Allegro con brio. Dies war schon die
Heimat. Tausende von Tönen folgten, jeder von ihnen erschreckend genau an
seinem Platz, und jeder mit selbstständigem Sinn und Takt, den man nicht –
nicht einmal halb tot – verfehlen darf, es gar nicht kann. Jetzt spielte nicht
mehr ich; mit mir, durch mich spielte eine Kraft, deren Name Musik ist, die
mich zum letzten Mal, noch ein Mal, gebrauchte, um sich auszudrücken, und die
mich danach beiseitewerfen würde wie ein langweilig gewordenes und abgenutztes
Instrument. So empfand ich es. Spielte ich »gut«? Reglos saß ich da, mit
starrer Haltung, nur meine Finger lebten. Ja, ich glaube, ich spielte »gut«,
mit aller Geübtheit eines Lebens, zum letzten Mal, wie jemand, der stirbt und
neu geboren wird, der etwas verlässt und in einen anderen Zustand hinübergeht.
Der Saal spielte jetzt mit mir, ich spürte die Nähe der menschlichen Körper,
stumme Wellen berührten mich und teilten mir mit, dass ich gut spielte. Und der
rote Fleck inmitten der weißen und goldenen Felder, wie banal, nett und
anziehend. Von solcher Art war alles, was tröstend gewesen war im Leben. Eine
stupsnasige blonde Frau mit rotem Hut, mit Farben, wie sie Renoir gemalt hat,
wenn er kleinbürgerliche Frauen verherrlichte, wie sie dicklich in hellblauem
und rotem Pomp, auch in ihrem schlechten Geschmack triumphierend und vornehm
auf dem Thron der Kunst Platz nahmen. Dies war das Leben, die empfindsame und
fleischliche, leidenschaftliche und gleichgültige Erscheinung, zu der aus
diesem anderen Zustand kein Weg mehr führte, wo der heiße Hauch des Allegro con fuoco mir um die Ohren pfiff. Und jetzt
verabschiedete ich mich zugleich von diesem roten Hut und von der Musik.
    Gegen Morgen beschloss der Professor, mir noch eine Spritze zu
geben. Ich sah sein sorgenvolles Gesicht, wie er stumm mit sich rang. Seit
Mitternacht saß er an meinem Bett; zuerst hatte er mir irgendein chemisches
Mittel in den Arm gespritzt, mein Handgelenk genommen und den Puls gemessen,
hatte mir versichert, dass ich gleich schlafen würde; er war aus dem Zimmer
gegangen und hatte das Licht ausgeschaltet. Aber ich schlief nicht ein. Wach
lag ich in der Dunkelheit und beobachtete den Schmerz. Wie war dieser Schmerz?
Ich schloss die Augen, lernte ihn kennen. Er glich keinem bekannten Gefühl. Der
Schmerz war neu, überraschend, er erinnerte nicht an die Qualen von Zahnweh,
auch nicht an die Leiden, wenn sich die Luftröhre zusammenkrampft. Ein starkes,
entschiedenes, unmissverständliches Symptom war dies, das für keinen einzigen
Augenblick verschwand. Es hatte in der Herzgegend begonnen und war langsam zum
Magen gezogen, dort hatte es sich irgendwo festgesetzt. Ich spürte, dass dieser
Schmerz jetzt für eine gewisse Zeit seinen Platz in meinem Körper gefunden
hatte, dass er sich sozusagen einrichtete. Ich nahm ihn wahr, wie man eine
Kugel oder ein Messer in seinem Körper wahrnehmen muss. Ein fremder Stoff war
in das Gewebe eingedrungen und ruhte nun tief in der weichen Materie. Und
jetzt, da der Schmerz da war, spürbar wie eine Wunde oder eine Geschwulst, war
ich plötzlich beruhigt. Als hätte all das Gestaltlose, was mich in den
vergangenen vierundzwanzig Stunden begleitet hatte, plötzlich Form angenommen.
Das ist also der Schmerz, dachte ich. Ich lag reglos, mit der natürlichen und
wohlerzogenen Reglosigkeit Kranker, die Hände ruhten auf den Rändern der
Bettdecke, aber irgendwie tiefer und horizontaler, als ein gesunder Mensch
liegt, Tote liegen so ähnlich, Ohnmächtige und all jene, die niedergeschlagen
wurden. Der Boxer muss sich so fühlen,

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