Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
Vom Netzwerk:
Hand, und sah mich
aufmerksam an.
    Â»Es schmerzt sehr stark«, sagte er und nickte, beugte sich
ein wenig über mich, kurzsichtig, als sähe er gar nicht mich, den Menschen,
sondern eine außerordentliche, hochgezüchtete Form des Schmerzes. So hatte er
mich auch Stunden zuvor angesehen, als wir im Krankenhaus angekommen waren. Er
fragte nicht, wie sehr es schmerze, er stellte eher die Temperaturstufe des
Schmerzes fest, als sagte er: »Zum Donnerwetter, heute ist es vierzig Grad
warm. Das ist schon etwas.«
    Reglos erwiderte ich: »Es schmerzt sehr stark. Ich wusste nicht,
dass es solchen Schmerz gibt.«
    Wir waren in starkes elektrisches Licht getaucht.
    Â»Ist es unerträglich?«, fragte er ernst im Konversationston.
    Ich dachte nach.
    Â»Beinahe«, antwortete ich dann. »Ich glaube, das ist der Schmerz,
von dem viele sagen, er sei unerträglich. Aber ich finde, man kann auch diesen
Schmerz ertragen.«
    Wohlwollend sagte er: »Ich freue mich, dass Sie so ehrlich sind.
Nein, es gibt keinen unerträglichen Schmerz. Er kann entsetzlich sein, aber
unerträglich ist er nie. Wenn er es wirklich ist, spüren wir ihn nicht mehr.«
    Â»Wie ist die Rangliste des Schmerzes?«, fragte ich.
    Der Professor zuckte mit den Schultern.
    Â»Es ist schwer, darauf zu antworten«, sagte er mitteilsam, »die
Schmerzen in der Herzgegend, die Krämpfe der Herzkranzgefäße, Nierensteine,
Gallensteine, alle Arten von Entzündungsschmerzen, die Wehen, es gibt eine große
Fülle von menschlichen Schmerzen. Aber ich glaube«, sagte er höflich, als
wollte er die Bedeutung meiner Schmerzen nicht verkleinern, als schonte er
meinen Ehrgeiz und meine Empfindlichkeit, »Ihre Schmerzen stehen irgendwo oben
in der Rangliste.«
    Gegen Morgen gab er mir noch eine Spritze, dann nahm er meine Hand
und setzte sich stumm und reglos an mein Bett. Die Berührung der menschlichen
Hand tat mir gut. Der Schmerz hatte sich beruhigt, und in dem tönenden Frieden,
der sich eingestellt hatte, spürte ich erleichtert diese menschliche Hand, die
mich in der fremden Welt, in dem Elend, das plötzlich auf mich eingestürzt war,
ohne Sentimentalität darauf aufmerksam machte, dass menschliche Anteilnahme und
Hilfe auch inmitten aller Schrecklichkeiten noch funktionieren. Auf einmal
verflog der Schmerz, wie wenn ein ohrenbetäubender Lärm aus irgendeinem Grund
plötzlich und unangekündigt aufhört. Der Frieden senkte sich langsam über mich
wie ein himmlischer Schleier. Durch diesen Schleier hindurch sah ich das alte,
faltige Gesicht mit dem weißen Bart, dieses vom Wachen müde menschliche Gesicht
mit dem dennoch aufmerksamen, sachlichen Blick, das sich jetzt, als sich die
Wirkung der zweiten Spritze zeigte, auf besondere Art änderte.
    Â»Was spüren Sie jetzt?«, hörte ich seine Stimme, aber von weit her,
als flüsterte er.
    Â»Nichts«, antwortete ich ebenso leise.
    Er nickte, und auf seinem Gesicht erschien das traurige Lächeln, das
ich nicht vergessen kann, als lächelte er angesichts seiner Hilflosigkeit so
traurig, als gestünde er sich mit diesem Nicken ein, dass ungefähr hier die
Grenze seines Wissens und seiner Hilfsbereitschaft war, dass dies alles war,
was ein Mensch in äußerster Not für einen anderen Menschen tun konnte: diese
Opiumspritze und der Frieden, der sich nach der Spritze in einem gepeinigten
Körper und in der Seele für kurze Zeit einstellt. Er stand auf, sagte einige
leise Worte zur Krankenschwester und ging ohne Abschied aus dem Zimmer.
    So begann es. An die Einzelheiten der folgenden Monate erinnere
ich mich nur ungenau. Die Krankheit schafft um ihre Erscheinung herum
außergewöhnlich rasch eine Art Ordnung, wie es letztendlich in allen
Lebenslagen des Menschen geschieht. Wahrscheinlich hat auch der Insasse einer
Todeszelle irgendeinen Stundenplan. Er teilt sich die Zeit ein, die ihm noch
gehört; jetzt schreibt er einen Brief, jetzt isst er; er empfängt Besucher,
denkt in einer gewissen Reihenfolge an dies und jenes. Außergewöhnliche
Lebenslagen sind nach einer genauen Ordnung aufgebaut. Vormittags erwachte ich aus
der Wirkung der Spritze, und schon war das Personal des Krankenhauses eilig um
mich zugange, der Tagesplan der Krankheit war bereits aufgestellt worden, ich
wurde gewaschen, gefüttert, mir wurde Temperatur gemessen; dann wurde das
Krankenzimmer gereinigt; jemand sang

Weitere Kostenlose Bücher