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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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halblaut auf dem Flur; ich sah eine
Brandmauer, an der das herbstliche morgendliche Sonnenlicht Funken schlug. Auch
der Schmerz war jetzt anders als in der Nacht. Er war wieder da, wie ich im
Augenblick des Erwachens mit zurückhaltender Neugier sogleich festgestellt
hatte. Selbst etwas Abscheuliches empfindet man sonderbarerweise als sein
Eigen. Und dieser Schmerz gehörte mir, also begrüßten wir uns gleich beim
Erwachen. War er an seinem Platz? Genau an seinem Platz, um den Magen herum.
Aber jetzt, am Morgen, schmerzte er anders, es war ein Tages-, wenn nicht gar
ein Morgenschmerz. Denn wie die Liebe am Morgen anders ist als nachmittags oder
nachts – sie hat eine andere Temperatur, Stimmung und Innerlichkeit –, so
ändert sich auch der Grad der Krankheit mit den Tageszeiten. Der Schmerz
verhielt sich jetzt gleichgültig, als hätte er sich mit dem Tag arrangiert. Am
Vormittag kam die Krankheit nicht dazu, ihre wirkliche Kraft und all ihre
Eigenarten zu zeigen. Erst kam der Friseur, dann mit übermüdetem Gesicht der
diensthabende Arzt, er überbrachte irgendeine Nachricht aus der Stadt oder aus
der Welt, also musste die Krankheit in diesen Stunden wohl oder übel zahm sein.
Jetzt beobachtete ich den Schmerz in meinem Leib schon wie eine Mutter ihr Ungeborenes.
Ich empfand ihn nicht als Wunde oder Geschwür, er war anders als bei einem
Schlag oder einer Verletzung. Er war wie ein bewusstes Wesen, das man in seinem
Körper trägt. Dieses Wesen, so empfand ich es, führte ein eigenes Leben
innerhalb meines Lebens. Es hatte auch einen sonderbaren,
verstümmelt-verkehrten Geist. Es besaß sogar einen Willen und Launen; manchmal
war es einfallsreich und überraschend, manchmal träge und gleichgültig, immer
aber heimtückisch, gnadenlos, unerbittlich. Manchmal spielte es mit mir wie ein
wildes Tier mit seinem Opfer oder ein chinesischer Henker mit dem Verurteilten,
der ihm auf Gnade und Ungnade überlassen ist. Manchmal wurden auch das wilde
Tier oder der Foltermeister müde und verdrießlich, gähnten und langweilten sich.
Manchmal duckte es sich, weil der Kranke all seine Kraft zusammennahm und
seinen Peiniger anschrie, ihn aufforderte, es sei nun genug, er solle endlich
aufhören. Dann schwieg er feige, verkroch sich, versteckte sich in seinen
Schlupfwinkeln. Denn eigentlich war er neugierig – so meine Erfahrung – und
streifte mit der vorsichtig-aufmerksamen Flinkheit und den hellwachen Augen und
Ohren eines hereinhuschenden Diebes in dem Gebiet umher, in das er sich
eingeschlichen hatte. Einmal klopfte er hier an, dann drückte er ein Stück
weiter eine Klinke hinunter. Ihn interessierten Augen, Ohren, Magen,
Herzgegend. Plötzlich streifte er ins Gedärm, dann suchte er in den
Extremitäten Quartier. Später wurde es ihm langweilig, und eine Zeit lang
fehlte jede Spur von ihm. Als hätte er sich verabschiedet. Wo versteckte er
sich dann? Stundenlang, ganze Tageszeiten lang gab er kein Lebenszeichen von
sich. Der Körper blieb argwöhnisch, aber die Seele kam schon allmählich zu
sich, sie hatte das Gefühl, ein Wunder sei geschehen, sie sei entkommen. Schon
spann sie Pläne für die Nacht oder den nächsten Tag. Dann, in der Benommenheit
des ersten Schlafes, unerwartet, abscheulich und zugleich kindisch-schrecklich,
schlug er sein Opfer vor die Brust wie ein grausamer Bengel, der grob und gnadenlos
mit einem ohnmächtigen und arglosen Kameraden spielt. Lachend und erholt würzte
er sein schreckliches Spiel mit neuen Ideen, brannte, sägte, kniff den Körper,
brachte ihn zum Stöhnen, und dieser bot seinem Peiniger nach dem Schreck des
ersten Entsetzens bereitwillig die Glieder dar. Und dabei schienen sich die
beiden zu unterhalten, der Schmerz und sein Opfer. Der Körper litt, er briet
auf der unsichtbaren Glut, fletschte die Zähne vor Qual, und der Mensch war
irgendwo weit weg. Als sähe er dem unberechenbaren Foltermeister aus der
Entfernung zu, manchmal beinahe heiter und überlegen. »Na, was kannst du
noch?«, fragte die Seele. Und der chinesische Henker warf sich feindselig auf
die Magennerven. Er zeigte, dass er noch vielerlei vermochte, Variationen, von
denen der Kranke noch nicht einmal geträumt hatte.
    Die ersten Tage gingen einher wie der Beginn einer Liebesbeziehung
mit höchstem Körpergefühl. Schmerz und Körper entdeckten einander wie zwei
Liebende, die

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