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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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voneinander nicht genug bekommen können, die wieder und wieder
übereinander herfallen. In dieser Zeit, vier Tage lang, bei Tag und Nacht,
erschien an meinem Bett häufig ein weiß gekleideter Wanderer, um mir wortlos
eine Spritze zu geben, mir mit stummem Erbarmen und trauriger Gnade vorübergehendes
Vergessen zu verschaffen. Was gab man mir? Morphin? Pantopon? Dolantin? Es
wurde mir nie gesagt. Wie der Dürstende den Schluck Wasser, der seine Qualen
für Minuten lindert, nahm ich ohne Fragen, beinahe gleichgültig die sich
rhythmisch wiederholenden, gnädigen Gaben in Empfang. Ich verstand nur, dass
ich sehr leiden musste, wenn man so natürlich, ohne Aufforderung, bei Tag und
Nacht mit den kleinen Spritzen zu mir hereinkam. Der Körper war aufmerksam,
manchmal fragte er schon, unterschied und verglich. Die Spritzen hatten nicht
immer die gleiche Wirkung, manchmal glühte der Schmerz trotzig durch das sanfte
Rauschen, wie wenn die Glut einer Zigarre durch das Seidenpapier brennt.
Manchmal war die Wirkung der Spritze kräftig und tief, besonders in den Nachtstunden,
gegen zwei, in den Stunden des Erwachens aus der abendlichen Betäubung. Sie
brachte mich nicht zum Einschlafen, sie gestattete gerade nur, dass die Zeit im
Erdulden verging, als wollte sie dem chinesischen Henker sagen: »Für diese
Nacht war es genug. Jetzt ruhiger.«
    Am Morgen des vierten Tages trat der Professor ein und blieb vor dem
Bett stehen. Hinter ihm ein Unterarzt, den ich schon kannte. Ein älterer Mann
von gedrungener Gestalt und niedriger Stirn, der immer blinzelte, von Zeit zu
Zeit grundlos lachte und vor Verlegenheit auf seiner Unterlippe herumbiss. Und
eine Krankenschwester, eine von den uniformierten, schwarz-weißen,
unpersönlichen Wesen, die bei Tag und Nacht zu jeder Stunde ungefragt, lautlos
in meinem Zimmer auftauchten. Dies war die Stunde der offiziellen Visite. Auch
die Stimme des Professors klang anders. Er war interessiert, höflich, ohne
Mitleid.
    Â»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte er wie ein Untersuchungsrichter.
    Â»Ja«, antwortete ich brav und arglos. »Diese Spritze heute Nacht war
gut.«
    Der Professor lächelte. »Ich weiß«, sagte er etwas spöttisch. Er
setzte sich ans Bett, fühlte mir den Puls und sagte ernst: »Diese Spritze haben
Sie heute zum letzten Mal bekommen. Heute Nacht«, er wandte sich an den
Unterarzt und sprach im Befehlston eines Soldaten, »bekommt er eine andere. Nur
eine. Und nur, wenn er sie verlangt.«
    Sie schwiegen. Ich verstand, dass ich nicht mehr Herr meines
Schicksals und meines Willens war, dass man über mich verfügte. Der Unterarzt
nagte an seiner geschwollenen Unterlippe und sah mich gelangweilt an, als hätte
er dies schon sehr oft gehört, als wüsste er, was heute Nacht geschehen würde
und auch morgen und später. Und als wäre er der Diskussionen und Erklärungen
schon im Voraus überdrüssig. Ich verstand, dass es nicht egal war, was der Arzt
da gesagt hatte: Er hatte gerade eine wesentliche Entscheidung getroffen.
    Â»Aber warum?«, fragte ich. »Wenn mir doch diese Spritze sogut getan
hat! Ich habe seit vier Tagen zum ersten Mal geschlafen. Den Schmerz habe ich
gespürt, aber nur von Weitem, wie wenn man Stimmen aus einem entfernten Zimmer
hört.«
    Der Arzt nickte wieder, als wollte er die Antwort eines Zöglings
loben. »Genau deswegen«, sagte er.
    Â»Wollen Sie nicht, dass mein Schmerz vergeht?«, fragte ich
feindselig.
    Â»Ich will«, antwortete er, »dass Sie gesund werden. Das braucht
Zeit. Ich kann Sie nicht um den Preis heilen, dass Sie sich an die
Betäubungsmittel gewöhnen.«
    Wir sahen einander aufmerksam an, wie zwei Ringer vor dem Kampf.
    Â»Maestro«, sagte er höflich, »heute fühlen Sie sich besser. Ihre
Schmerzen sind nicht so unerträglich. Nicht wahr?«
    Â»Ich habe mich daran gewöhnt«, entgegnete ich vorsichtig.
    Ich spürte, dass ich mich verteidigen musste, dieser Mann griff mich
jetzt an, wollte mich in die Ecke drängen. Er wollte mir das gefährliche Gift
nehmen, das Betäubungsmittel, das meine Schmerzen verschwinden ließ. Ich musste
vorsichtig sein, durfte nicht zulassen, dass man mir dieses vergängliche
Geschenk des Wohlbefindens wegnahm. Wie alle Schwerkranken wusste ich, dass ich
von diesem Augenblick an schlau und gewitzt um alles kämpfen musste, was meine
Leiden linderte. Ich

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