Die Schwester
wusste auch, dass ich kein neuer und interessanter Kranker
mehr war; nach vier Tagen war ich unter die Elenden dieser groÃen Einrichtung
platziert worden. Schon war man meiner etwas überdrüssig, neue Kranke waren
gekommen, die lauter und interessanter litten als ich. Jetzt griff ich an.
»Was habe ich eigentlich?«, fragte ich und setzte mich auf.
Der Professor sah mich aufmerksam an wie einen Gegenstand. Meine
Frage schien er gar nicht gehört zu haben. Er war aufmerksam und abwesend
zugleich. Er stand auf, ging ans Fenster, sah die Brandmauer an, diese graue
verputzte Brandmauer, die mir von Florenzâ ewigen Bauwerken geblieben war. Er
zuckte leicht mit den Schultern, als diskutierte er im Stillen mit jemandem.
Dann wandte er sich um, nahm die Brille ab und sagte ruhig: »Ich glaube, es ist
klüger, wenn ich ehrlich mit Ihnen spreche. Ihre Krankheit ist nicht
alltäglich. Aber eines Tages werden Sie geheilt sein. Sie müssen sich darauf
vorbereiten.«
Er verstummte. Mir schien, alle drei, der Unterarzt, die
Krankenschwester und ich, der Patient, hielten die Luft an.
»Werde ich behindert sein?«, fragte ich.
»Ich glaube nicht«, sagte er einfach und freundlich. »Sie müssen
sich darauf vorbereiten, dass Sie lange bei uns bleiben werden. Ihre Schmerzen
werden vergehen. Wir haben keine Medizin gegen diese Krankheit, aber viele
Hilfsmittel. Sie werden allerlei bekommen.« Er sprach etwas nervös. »Viele
Vitamine. Später vielleicht Röntgenstrahlen. Sie dürfen während der Krankheit
nicht erschrecken. Sie ist ein Geduldsspiel. Vor nichts dürfen Sie
erschrecken.« Er nickte dreimal, als wollte er auf diese Weise versichern, dass
auch er sich nicht fürchtete.
»Was habe ich?«, fragte ich lauter.
»Was fangen Sie mit einem lateinischen Wort an?«, fragte er sanft
und geduldig. »Diese Krankheit ist nicht häufig. Sie wird von einer Ansteckung
verursacht, einer Art Virusansteckung. Den Krankheitserreger kennen wir nicht.
Säuglinge können sie ebenso bekommen wie Greise. Ich glaube nicht, dass ich
mich irre«, sagte er noch unsicher.
»Haben Sie schon viele solcher Krankheiten gesehen?«, fragte ich.
»O ja«, erwiderte er verlegen. Und wie jemand, der mit unangenehmen
Fragen belästigt wird und nicht lügen kann, sah er über meinen Kopf hinweg und
fuhr peinlich berührt fort: »Ich bin Internist. Jetzt wird Sie ein Nervenarzt
untersuchen. Man hat aus Rom angerufen. X. kommt.« Er nannte einen Namen. »Aus
Neapel. Ein hervorragender Mann. Das Ministerium will es so.«
Er sagte das in entschuldigendem Ton, wie ein Komplize, als wollte
er mir zu verstehen geben, dass das Ministerium, ja dass auch X. nichts machen
konnte, aber ich all das ertragen musste. Wir sahen einander an wie
Kartenspieler in den groÃen Augenblicken des Spiels.
»Trotzdem«, sagte ich unbarmherzig, »was habe ich?«
»Das Wort«, antwortete er, »das ich sagen könnte, ist ein Wort,
nichts weiter. Sie haben gefragt, ob ich viele solcher Fälle gesehen habe?« Er
hatte den selbstquälerischen Trotz eines Menschen, der durch eine fixe Idee
immer die Wahrheit sagt und sich nicht damit abfinden kann, nicht ehrlich auf
eine Frage zu antworten. »Es waren nicht allzu viele. Insgesamt vielleicht
zwanzig. Oder fünfzehn. In dreiÃig Jahren.« Traurig, kindisch und verschämt
lächelte er.
»Und sind sie gesund geworden?«, fragte ich.
Er nickte ernst: »Viele sind gesund geworden.«
»Ganz?«
Jetzt sahen wir uns direkt in die Augen. Eine Zeit lang hielt er
meinem Blick stand und erwiderte ihn. Dann wandte er den Kopf ab.
»Maestro«, sagte er. »Ich weiÃ, dies ist eine schwere Stunde. Es ist
vier Tage her, dass wir Sie hierher gebracht haben. Diese vier Tage sind, falls
Sie dies nicht wissen, für Sie in einer Art Bewusstlosigkeit vergangen. Aber
den lärmenden Anfang haben wir hinter uns. Diese Krankheit beginnt manchmal so
dramatisch, in der Herzgegend oder im Bereich der Magennerven, mit groÃen
Schmerzen. Hören Sie mir zu?«
»Ja«, antwortete ich gehorsam.
In diesem Augenblick spürte ich eine groÃe Ruhe. Ich sah dem
Professor in die klaren, hellblauen Kinderaugen und wusste, dass er jetzt die
Wahrheit sagte.
»Dies ist die Zeit, in der die Krankheit die Sinnesnerven angreift.
Das ist der erste Schub. Er ist schon im Abklingen. Was folgt, kann
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