Die Schwester
wie ein Ertrinkender nicht die Zeit hat, sich mit dem ÃuÃeren
seines Lebensretters zu befassen. Aber der Professor hatte recht, der Strudel
wirbelte nicht mehr, es war an der Zeit, nachzudenken, auf die Welt zu achten.
Jetzt musste ich nur noch ans Ufer schwimmen und mich an denen festklammern,
die mir halfen.
Er war etwa in meinem Alter, ganz grau, trug einen weiÃen Bart und
wurde sanft kahl, etwas verschämt, wie jene, die einige gelblich-weiÃe Strähnen
quer über den Kopf kämmen, um die Augen zu täuschen. Er war ein groÃer Mann,
seine Haltung schlotterig und gekrümmt, seine Schultern bereits â wie die eines
Schwindsüchtigen â nach vorn gefallen. Er war unbeholfen, als könnte er mit
seinem groÃen Körper nichts anfangen, als schämte er sich auch ein wenig, dass
er so plump und ungeschickt war. Er hatte sonderbare groÃe Hände,
schaufelartige, krankhaft weiÃe, knochige Hände; an den unverhältnismäÃig
breiten FüÃen trug er Schnürstiefel, groà wie Kähne. So stand er da, mit
hängenden Schultern und plumpen Extremitäten, gebeugt und dennoch mächtig vor
dem Bett, in einer bedauerlichen und lächerlichen Hilflosigkeit, als wüsste er,
dass die MaÃe seines Körpers ungewohnt waren, hätte aber keine Lust, sich mit
dieser UnregelmäÃigkeit zu beschäftigen; als hätte er genug von diesem Körper
und wäre nicht mehr willens, sich abzumühen, ihn in der Welt unterzubringen. Er
hatte einen verschmitzten, spitzen, weiÃen Bart, einen lustigen Gaunerbart wie
die bejahrten Helden im italienischen Decamerone , die
schmunzelnd die Humanisten lesen und in der Dämmerung bei der Vesper den jungen
Mädchen nachsteigen. Die fleischigen Lippen leuchteten sanguinisch rot inmitten
der weiÃen Behaarung, denn sein Schnauzbart, gelblich vom Nikotin, hing zu
beiden Seiten hinunter und mischte sich mit den spärlichen Fäden des
Backenbartes. Seine Augen leuchteten kalt und bläulich wie eine Nachtlampe im
Krankensaal, die kühl und sachlich über dem menschlichen Elend thront.
Diese Augen betrachtete ich. Jetzt sah ich diesen Mann zum ersten
Mal; bisher hatte ich nur gewusst, dass er irgendwo hier in der Nähe war, ein
Protagonist der Wende meines Lebens. Jetzt, im ersten ruhigeren Augenblick, sah
ich ihn mir an, wie man im Krieg, nach einem Angriff, den Feind oder den
Kameraden ansieht, den Menschen, mit dem man in einer schicksalhaften Lage auf
Leben und Tod verkuppelt ist. Was wusste ich über ihn? Er war Arzt, liebte die
Musik, leitete ein groÃes Krankenhaus. All das zählte in diesem Augenblick
nicht. Können Sie mir helfen?, fragte mein Blick. Und der Arzt hielt diesem
Blick stand, kalt, ernst. Er ermutigte mich nicht, aber er hielt stand. Von
diesem Blick hing alles zwischen uns beiden ab. Denn was er gesagt hatte und
noch sagen konnte â »Sie werden gesund, ich lüge meine Patienten nicht an« â,
waren nur Worte, auch wenn er die Wahrheit sagte. Und in diesem Moment wurde
mir bewusst, dass alles, was er in meinem Interesse tun konnte â Spritzen,
Röntgen, Heilmethoden und Medikamente â, nutz- und sinnlos war, wenn wir beide,
der Arzt und ich, nicht übereinkamen, jetzt, in diesem Augenblick, in einem
eigenartigen Bund und Vertrag, darüber, dass er mein Arzt war und mich deshalb
heilen konnte. Wir wussten beide ohne Worte, dass alles davon abhing, die
Worte, die Medikamente und die Heilmethode waren nur Zugaben.
Wir sahen einander an, und plötzlich wurde mir klar, dass dieser
weise, erfahrene und routinierte Mann nicht mein Arzt war, dass er mich nicht
heilen konnte.
Deshalb begannen wir uns zu unterhalten: »Machen Sie sich Sorgen um
mich wegen der Betäubungsmittel?«, fragte ich im Konversationston.
»Ich sorge mich um alle«, antwortete er mitteilsam, bereitwillig, gleichsam
befreit, als wären dieses Schweigen und diese Prüfung auch für ihn peinlich
gewesen, als wüsste er, dass er durchgefallen war, dass er in Wirklichkeit
nichts für mich tun konnte, dass andere Kräfte jetzt gegen mich und um mich
kämpften; und als freute er sich, dass wir diesen peinlichen Augenblick hinter
uns hatten, in dem der Arzt seinen Patienten nicht mehr hinters Licht führen
kann und von etwas anderem sprechen darf. »Es ist meine Pflicht, mich um alle
zu sorgen, die über längere Zeit solches Opium bekommen. Sie
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