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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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noch
schmerzhaft sein, aber diesen Schmerz werden Sie mit kleinen Hilfen ertragen.
Ich empfehle Ihrer Aufmerksamkeit das einfache, gewöhnliche Pyramidon. Ein
hervorragendes Mittel. Ich beginne, hartnäckig daran zu glauben. Aber das sage
ich nur nebenbei. Wir haben so viele Medikamente.« Er lächelte spöttisch und
winkte ab. »In ein paar Monaten werden Sie selbst der beste Arzt für Ihre
Schmerzen sein. Sie werden mit gespenstischer Genauigkeit wissen, was Sie
verlangen müssen und wann Sie es verlangen müssen.«
    Â»In ein paar Monaten?«, fragte ich.
    Ich hörte meine Stimme wie jemand, der vor einem Abgrund
zurückweicht und aufschreit. Ruhig sah er mich an. Wieder sprach er wie ein
Richter, der ein Urteil verkündet, ohne Zorn, beinahe gleichgültig, weil er
nicht anders konnte: »Ein Monat, drei Monate. Ich habe Ihnen gesagt, dass diese
Krankheit ein Geduldsspiel ist.«
    Er begann im Zimmer auf und ab zu laufen, die Hände auf dem Rücken
verschränkt. Vor dem Bett blieb er stehen und sah mir in die Augen.
    Â»Erschrecken Sie vor nichts. Ich habe Ihnen versprochen, dass Sie
gesund werden. So etwas verspreche ich nur selten. Aber wir werden viel Zeit
und viel Geduld haben müssen, alle beide. Vertrauen Sie auf das Vitamin B, Sie
werden es in riesigen Mengen bekommen, wir spritzen es Ihnen in die Vene.« Dies
sagte er bereits zum Unterarzt, sah ihn aber nicht an. »Vertrauen Sie den
Eigenblutinjektionen. Vertrauen Sie den Spritzen allgemein.« Er sprach ohne
Betonung, nett und freundlich.
    Wieder fragte ich: »In ein paar Monaten?«
    Wie der Verurteilte, wenn er das verhängte Urteil hört und winselnd
zu flehen beginnt. Ich erkannte meine Stimme nicht wieder. Er nickte ernst:
»Natürlich kenne ich die genaue Zeit nicht. Der Kollege aus Neapel weiß gewiss
mehr über diese Krankheit. Aber von denen, die ich an dieser Krankheit leiden
sah, brauchte keiner weniger als einige Monate. Ich wiederhole, diese wilden
Schmerzen werden sich legen. Und was dann kommt, soll Sie nicht erschrecken.«
    Und als wäre er bestürzt, weil er mehr gesagt hatte, als er durfte,
erdrückt von seiner ärztlichen Verantwortung, wiederholte er lauter und beinahe
drohend: »Erschrecken Sie nicht! Hören Sie, ich sage es Ihnen, sehen Sie mich
an! Ich lüge meine Patienten nicht an, niemals! Manchmal ergibt es sich, dass
ich schweigen muss, aber ich lüge nie, auch nicht bei Ihnen. Vielleicht haben
Sie schon alles hinter sich. Verstehen Sie?«
    Jetzt sprach er ärgerlich, und in seinem Blick spürte ich wieder die
Ohnmacht wie in der Nacht, als er mir die starke Injektion gegeben hatte. Die
Traurigkeit der Ohnmacht.
    Wir betrachteten einander genau. Ich verstand jedes seiner Worte,
denn in diesen Augenblicken sprachen wir nicht nur mit Worten. Ich verstand,
dass diese morgendliche Visite kein täglicher, offizieller Zeitvertreib war,
sondern wie eine Hauptverhandlung. Vier Tage lang hatte mich dieser Mann
beobachtet wie ein Richter den Angeklagten, jetzt glaubte er, alles über mich
und meine Angelegenheit zu wissen. Er war gekommen, um ein Urteil zu verkünden
und mich aufzufordern, die Strafe zu tragen. Denn jetzt wusste ich bereits,
dass diese Krankheit eine Strafe war. Vielleicht ist jede Krankheit eine
Strafe, aber das weiß ich nicht so genau, vielleicht gibt es auch Unfälle. Doch
ich wurde jetzt bestraft – wofür? Wo hatte ich mich geirrt, was hatte ich
verbrochen? Ich hatte den Verdacht, dass all dies irgendwie rätselhaft mit der
Musik zusammenhing, dann mit E., meiner Lebensweise, meiner Arbeitsweise und
allem, was ich war. Und das Ganze verhielt sich wie eine komplizierte Straftat,
die ich begangen hatte durch die Tatsache, dass ich lebte und dass ich nicht so
gelebt, gearbeitet und geliebt hatte, wie ich gesollt hätte. Aber wie »hätte
ich denn gesollt«, gütiger Himmel? Niemals hatte mir das jemand gesagt. Niemals
hatte mir jemand geholfen! Wo, worin hatte ich gesündigt, und weshalb diese
Strafe? Wir sahen uns direkt in die Augen, und ich wusste auch ohne Worte, dass
dieser Mann meine Gedanken kannte und wusste, was mich gerade quälte. Sehr oft
schon hatte er – auch ohne Worte – diese Fragen gehört. Geduldig sah er mich
an. Und ich nahm ihn genau in Augenschein, als sähe ich ihn jetzt zum ersten
Mal. Bisher hatte ich keine Zeit gehabt, mich mit seiner Person zu
beschäftigen, so

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