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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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dachte nach.
Cherubina lachte. Sie antwortete an der Stelle des Professors: »Selten. Nicht
wahr, Herr Professor?«
    Gertenschlank stand sie zwischen uns beiden und maß mir die
Temperatur. Als sie sich zu mir beugte, schlug mir auch durch den groben
Leinengeruch des Ordensgewandes die Wärme ihres jungen Körpers entgegen.
    Der Professor nickte zustimmend. »Cherubina sagt es. Selten.«
    Sie lachten sich an, Professor und Schwester, wie zwei Verbündete.
    Â»Zum Beispiel damals, mit Veneranda. Nicht wahr, Cherubina?«
    Jetzt wurde die Schwester ernst. Ihre schönen Augen wehmütig auf das
Thermometer gerichtet, sagte sie halblaut, beinahe andächtig:
    Â»Veneranda hat viel gelitten.«
    Â»Der Mensch leidet immer«, sagte der Professor geduldig in
belehrendem Tonfall, »wenn er jemanden retten will und weiß, dass er machtlos
ist.«
    Cherubina sah auf das Thermometer. Trotzig sagte sie leise:
»Veneranda hat überflüssig gelitten.«
    Der Professor stützte im Sitzen den Arm aufs Knie und beugte sich
vor. Eher zu sich selbst sagte er: »Ich glaube, man leidet niemals
überflüssig.«
    Die Tür öffnete sich, Charissimas schmales Gesicht erschien, weiß
umrahmt von der gestärkten Haube. Charissima hatte im Medikamentenzimmer zu
tun. Meist war sie es, die mir nachts die Spritzen ans Bett brachte. Sie war
von unbestimmbarem Alter, zwischen vierzig und fünfzig; in ihrem kleinen,
mandelförmigen, weißen Gesicht lebten nur die großen, dunklen Augen. Immer war
sie eilig unterwegs, machte sich nervös zu schaffen und lachte grundlos,
kindisch und verschämt. Jetzt rief sie Cherubina weg. Als sie gegangen waren
und die Tür hinter sich geschlossen hatten, beugte sich der Professor mit einer
vertraulichen Bewegung zu mir.
    Â»Charissima ist krank. Aber sie weiß es nicht.«
    Mich interessierte das Schicksal der grinsenden, weißgesichtigen
Charissima nicht weiter. Eher nur aus Höflichkeit fragte ich: »Was hat sie?«
    Â»Leukämie«, sagte der Professor kurz. Und als bereute er die
unerwartete Mitteilsamkeit, rieb er sich den Bart und begann von etwas anderem
zu sprechen.
    Â»Sie haben gefragt, ob es keine Probleme mit ihnen gibt. Natürlich
gibt es auch mit ihnen Probleme, weil sie Menschen sind. Hinter der Tracht und
dem Verhalten leben Menschen aus Fleisch und Blut, Frauen. Aber Sie glauben
nicht, wie selten es vorkommt, dass sich eine von ihnen verirrt. Ich lebe und
arbeite seit dreißig Jahren mit ihnen, eine stirbt, eine andere geht ins
Kloster zurück, an ihrer Stelle kommt eine neue Person, aber in den dreißig
Jahren habe ich insgesamt nur zwei Mal echte, tiefe Krisen mit den Schwestern
erlebt. Die eine war tragisch, sie starb. Die andere hat viel gelitten. Aber
sie hat es ertragen, sie lebt.«
    Â»Veneranda?«, fragte ich.
    Â»Veneranda. Vor drei Jahren. Sie pflegte einen Blinddarmpatienten,
und sie verliebten sich ineinander. Sie hatte schon beschlossen, den Schleier
wegzulegen und den Orden zu verlassen. Ja, Cherubina hat recht, Veneranda hat
viel gelitten. Und der Mann war dieses Leidens nicht würdig. Die Oberin hat
damals viel geholfen. Sie ist ein großartiges Geschöpf.«
    Â»Die Oberin? Wo?«, fragte ich.
    Â»Na, in Pistoia.« Er sah mich an, als wunderte er sich, dass ich so
unwissend war. »Hier, in der Nähe, im wunderschönen Pistoia. Dort ist ihr
Kloster, mit einem großen Garten. Wenn Sie wieder gesund sind, sollten Sie sie
besuchen. Es lohnt sich, die Oberin kennenzulernen.«
    Â»Was tat die Oberin mit Veneranda, als das Unglück geschehen war?«,
fragte ich gelangweilt.
    All das interessierte mich nicht aufrichtig und wirklich; die
Schwestern, der Professor, die Qualen, das nächtliche chemische Abenteuer, die
Krankheit, diese komplizierte Schande, in die ich gesunken war, hatten mich
langsam ermüdet und gleichgültig werden lassen. Ich lebte in einer sumpfigen
Welt, ich spürte, dass ich langsam versank. Ebenso hätte ich fragen können, was
in der Welt geschehen war, wie es um den Krieg stand, was mit den Polen
geschah, mit den Deutschen und mit den Russen. Und was war mit Florenz? Und mit
E.? Und mit denen zu Hause? Denn es waren Monate vergangen, und ich hatte
nichts gehört, aus der Heimat hatte man sich gewiss nach mir erkundigt, und
auch der Krieg war weitergegangen auf seinen gleichgültigen Stahlsohlen und
gnadenlosen Wegen. Ich

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