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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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einer anderen den Hof zu machen. Wenn Sie das,
was ich gesagt habe, so verstehen, irren Sie, dann irren Sie gefährlich, und
Cherubina würde herzhaft lachen, wenn sie diesen Vorschlag hören könnte. Nein,
es geht um etwas anderes.« Er verstummte. Mit den weichen, weißen, langen
Fingern rieb er sich den Bart. »Ich hätte gern, dass Sie sich für jemanden oder
etwas interessieren. Ich sehe, Sie lesen nicht. Das verstehe ich. In Ihrem
Zustand kommen die Botschaften der Bücher noch von sehr weit her. Aber ich
hätte gern, dass das Leben endlich wieder zu Ihnen spricht, in dem besonderen
Ton, dessen Ruf man nicht ausweichen kann. Bitte machen Sie den Versuch und
hören Sie auf diesen Ton.«
    Â»Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Woran denken Sie?«
    Â»Die Musik«, sagte er. »Möchten Sie niemals Musik hören?«
    Â»Nein«, antwortete ich entschieden. »Ich möchte keinerlei Musik
hören.«
    Â»Was empfinden Sie«, fragte er neugierig, »wenn Ihnen die Musik in
den Sinn kommt?«
    Â»Ãœbelkeit«, antwortete ich.
    Er nickte so eifrig und erfreut, als hätte er diese Antwort
erwartet. Als hätte er ein Symptom der Krankheit erkannt.
    Â»Ãœbelkeit, ja. Wissen Sie, was diese Übelkeit ist? Dieses Gefühl,
als wären Sie vergiftet worden? Das ist die Krankheit selbst. Es gibt einen
Zustand, den wir Ärzte als superpositio bezeichnen.
Auf die Krankheit baut sich eine weitere Krankheit auf, ja verschiedene
Krankheiten, Schicht für Schicht über dem Fundament. Das Liegen, der Zustand
des Krankseins, die Behandlung, die Umgebung, all das heilt nicht nur, genauer
gesagt, es heilt nicht immer. Manchmal macht es auch krank. Bei langem Leiden
tritt unweigerlich dieser Zustand ein. Der Körper ist geschwächt, und die Seele
verstärkt diese Schwäche nur. Was können wir Ärzte tun? Nur Christus konnte
sagen: Steh auf und geh! Ich kann nur sagen, bemühen Sie sich, die Krankheit zu
überwinden. Es gibt am Grunde des Lebens eine gewisse Trägheit, Nihil ist der Name dieser Krankheit. Ich kann Sie nur
behandeln.«
    Â»Soll ich Cherubina den Hof machen?«, fragte ich und stützte mich
auf die Ellbogen. Er fing an zu lachen.
    Â»Ich glaube nicht, dass das einen Sinn hätte. Cherubina ist nicht
die hübsche Nonne aus Boccaccios Zeiten, der man schöne Augen machen kann. Sie
ist sehr schön, das stimmt. Und die Schönheit ist immer ein Trost, auch wenn
sie im Gewand einer Nonne erscheint. Sehen Sie, Maestro, Ihre Krankheit ist der
Grenzfall, in dem sich organisches Leiden und seelische Voraussetzungen
furchterregend verflechten. Ihre Krankheit wird von einer Art Giftinfektion
verursacht, und über die Gifte wissen wir nichts. Fast nichts«, sagte er mit
der besorgten und gewissenhaften Ruhe, mit der er immer seine allgemeinen oder
zu bestimmten Worte richtigstellte. Als fände er sich nicht mit endgültig
verneinenden Aussagen ab und glaubte noch an irgendein höheres Urteil. »Ich
kann nur die körperlichen Folgen der Vergiftung behandeln. Und das geschieht
bereits. Sie sehen selbst, dass wir alles tun«
    Â»Oh, alles«, sagte ich höflich und spöttisch.
    Dieser spöttische Tonfall war unwillkürlich, unabsichtlich und
zugleich grob und anklagend. Mit funkelnden Augen sah er mich an, mit der
Freude des Fachmanns, der endlich die wahre Bedeutung eines verborgenen
Symptoms entdeckt.
    Â»Natürlich nicht ›Alles‹«, betonte er. »Nur so viel, wie möglich
ist. Ich achte die Medizin nicht gering und weiß, dass das, was wir tun können,
nicht wenig ist. Aber nicht alles. Das ›Alles‹, Maestro, ist der eigenartige
Mehrwert, ist das eigentliche Gleichgewicht zwischen Gesundheit und Krankheit.«
    So hatte er noch nie gesprochen. Lodernd stand er jetzt vor mir, als
wäre ein Licht in ihm entflammt. Jetzt war er ganz italienisch, fieberhaft,
rhetorisch.
    Â»Was ist das ›Alles‹?«
    Er zuckte mit den Schultern.
    Â»Spricht man es aus, ist es ein Gemeinplatz. Beinahe alles wird zum
Gemeinplatz, was wir mit der Kraft unseres Herzens erkennen und dann mit Worten
ausdrücken müssen. Ist es alles, ob jemand wirklich, innerlich, etwas mit dem
Leben zu tun hat? Einer meiner Lehrer, ein wortkarger Mensch, sagte einmal in
einer Vorlesung: Schwindsucht ist eine Charakterfrage. Er hat diese Erfahrung
nicht erklärt. Damals lachten wir, als hätte er

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