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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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einen Scherz gemacht. Jetzt, mit
zunehmendem Alter, weiß ich, dass er die Wahrheit gesagt hat. Das ›Alles‹,
Maestro, der Mehrwert, mit dem die Gesundheit die Krankheit besiegt, die
Handlung, welche die am Grunde des Lebens und am Grunde von allem lauernde
Trägheit besiegt, das ›Alles‹ ist das Schöpferische, jener tiefe Strom, der
einen Menschen durchdringt, wenn er mit Eros zu tun hat. Denn Eros ist eine
große Kraft. Auch das ist nur ein Wort, aber vielleicht ist der Sinn Ihres
Lebens dieses Wort. Die Alten, meine Ahnen, die Lateiner und Griechen, glaubten
daran.« Er sprach ernst, bescheiden und dennoch feierlich, als wäre er sich der
Bedeutung seiner »Ahnen« bewusst. »Unter Eros verstehe ich jetzt natürlich
nicht die Leidenschaft, die wir gewöhnlich als Erotik oder Sinnlichkeit bezeichnen.
Die Sinnlichkeit ist nur eine Erscheinungsform von Eros. Das Schöpferische, die
Kunst, das menschliche Zusammenleben, alles ist erfüllt von Eros oder nicht.
Und wo er schweigt, da sind die Menschen taub oder hilflos.«
    Â»Oder krank«, sagte ich.
    Ich stützte mich auf mein Kissen, wir verstanden einander. Dieser
Mann hatte sich jetzt geöffnet. Warum? Bisher war er nur der überlegene Arzt
gewesen, der väterliche und belehrende, etwas spöttische Vorgesetzte. Jetzt
hatte er mir gegeben, was ich die ganze Zeit von ihm erwartet hatte: die
Unmittelbarkeit, das schroffe und warme Mitgefühl, das er mir bislang
vorenthalten hatte. Jetzt ging es um mich persönlich, nicht um den einsamen
Kranken von Zimmer sieben, der Gast des italienischen Staates war und mit dem
man sich also aufmerksam zu befassen hatte. Jetzt endlich sprach er zu mir und
nicht zu einem Gelegenheitsgast eines seiner Krankenbetten. Er nickte eifrig:
»Oder krank. Sehen Sie, Maestro, ich bin über sechzig Jahre alt. Ich fliehe
schon vor den Kranken, so gut es geht, denn ich habe nicht mehr viel Zeit, und
man wird selbstsüchtig. Ich möchte noch dann und wann große Musik hören. Sie
möchte ich hören, wie Sie Klavier spielen«, sagte er höflich. »Deshalb schalte
ich bei Nacht nach Möglichkeit mein Telefon aus. Ein paar Bücher, ein paar
Mozart-Platten, am Tage ein kurzer Spaziergang in den Sälen der Uffizien,
Gespräche mit ein paar wenigen, lieben Menschen, so bescheiden wird man
schließlich. Und so anspruchsvoll. Aber der Beruf kommt mir überall nach, auch
in die Einsamkeit der Nacht. Wenn das Telefon nicht klingelt, hämmert man eben
mit den Fäusten an meine Tür. Und dann muss ich aufstehen und hinausgehen in
die Welt, denn das menschliche Elend hämmert lauter und mit härteren Fäusten
als jeder menschliche Appell, es überschreit das fortissimo der größten Musik und sogar die Selbstsucht des Arztes. Also gehe ich
irgendwohin. Trete in ein Zimmer ein, in das verwüstete Zimmer einer fremden
Wohnung, zwischen Möbel, wo jeder Gegenstand die verschwitzten Handzeichen eines
Lebens trägt, sehe mich um und sehe im Bett einen Menschen, der stöhnt. Oje,
Herr Doktor, sagt er. Mein Herz. Mein Magen. Meine Milz. Meine Leber. Was
denken Sie, was mein erstes Gefühl ist, wenn ich in einem fremden Zimmer einen
Menschen sehe, der mir fremd ist und stöhnt?«
    Er sah mich so aufmerksam an, als glaubte er ernsthaft, dass ich,
gerade ich, auf diese sonderbare Frage antworten konnte. Neugierig erwiderte
ich: »Was fühlen Sie dann?«
    Â»Ich höre eine Frage«, antwortete er ernst und andächtig. »Die Frage
lautet: Was ist hier die Lüge? Ich meine: Wie wurde aus der Lüge eines Lebens
Krankheit? Wie wurde aus all dem, was in diesem Zimmer, zwischen diesen Möbeln,
im Körper und in der Seele dieses Menschen geschehen ist, eine eigenartige
körperliche Wirklichkeit, Gallenstein, Magensäure oder Thrombose in den
Gefäßbahnen, oder … Verstehen Sie mich?
    Â»Ich verstehe«, antwortete ich.
    Ich verstand tatsächlich. Jetzt verstand ich auch, warum er sich
zuvor gefreut hatte, als ich davon sprach, dass mir übel wird, wenn ich an die
Musik denke. Und ich spürte auch, dass mich dieser Mann in diesen Augenblicken
– zum ersten Mal, seitdem wir uns getroffen hatten – nicht »behandelte«,
sondern heilte, mir also das gab, was ich mit eifersüchtiger, stummer Forderung
bislang vergeblich von ihm erwartet hatte: die Wahrheit. Wir sahen einander so
neugierig an wie zwei

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