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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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Einbrecher, die sich plötzlich im Dunkeln am Schauplatz
der gemeinsamen Beute treffen.
    Â»Die Lüge«, wiederholte er, »jene Lüge, die gestern noch den Namen
Arbeit trug oder Aufgabe, Ehrgeiz oder Liebe oder Familienleben. Und tausend
und zehntausend Tage und Nächte waren nötig, damit sich diese Lüge in einem
Körper und innerhalb dessen in einem Nervensystem, in den Sinnesorganen zur
einzigen, unerträglichen Wirklichkeit des Lebens wandelte, die dann der
Organismus, der ganze Mensch, eines Tages mit einem gequälten Stöhnen in die
Welt schrie, in Form einer Krankheit diese zu einem Panikgefühl umgewandelte
unerträgliche Lüge hinausschrie, die in seinem Leben nun die einzige
Wirklichkeit geworden war. Dass er seine Umgebung oder seine eigene Eitelkeit
nicht mehr ertrage oder die Lebensweise, mit der er versuchte, die Leere seines
Lebens zu betäuben, oder dass er das mechanische Tun nicht mehr aushalte, das
im Laufe seines Lebens seinem Körper und seiner Begabung entsprungen ist, die
ihm Gott einst schenkte. Und dann beginnt er zu stöhnen, zu schreien, weil er
die Lüge nicht mehr erträgt, die zu einem körperlichen Übel geworden war. Und
ihm ist übel, als wäre er vergiftet worden. Und tatsächlich, er wurde
vergiftet, mit dem niederträchtigsten Gift, wie es nicht einmal die Quacksalber
der Medici in Florenz kannten und auch nicht die Borgias. Das Leben ist Gift,
wenn wir nicht an es glauben. Das Leben ist Gift, wenn es nur noch Mittel dazu
ist, dass sich Eitelkeit, Ehrgeiz oder Neid daran satt essen. Einem wird übel,
wie …«
    Â»Wie mir vor dem Konzert«, sagte ich ruhig. »An dem Tag, an dem Sie
mich in Ihrem Wagen hierher gebracht haben. Und wie seither immer, wenn mir die
Musik in den Sinn kommt.«
    Er schwieg. Ernst und einfach sagte er: »Ja.« Er nickte. »Irgendwie
so.«
    Â»Aber wenn es doch nicht anders geht«, sagte ich mit
entschuldigendem Ton. »Das Ziel ist die Vollkommenheit. Und der muss man alles
hingeben, die Übung des ganzen Lebens und das Leben selbst, mit Haut und Haar.«
    Leise sagte er: »Ich weiß.«
    Dann, beinahe verschämt: »Es muss schrecklich sein, Künstler zu
sein. Vielleicht ist das das Schlimmste. Sogar die Heiligen haben es leichter,
sie erheben sich in einer einzigen großen Leidenschaft über sich selbst und
verbrennen. Aber der Künstler ist bis zum letzten Augenblick gezwungen, bei
Bewusstsein zu bleiben. Ansonsten ist er kein Künstler, sondern nur ein
keuchender, stümperhafter Kunstliebhaber. Dem ›Großen Augenblick‹ gehen für den
Künstler Millionen bewusster, grauer Augenblicke voraus. Und auch im ›Großen
Augenblick‹, wenn er das Unendliche und Göttliche ausdrückt, muss er so
nüchtern und bewusst bleiben wie ein Buchhalter, wenn er Zahlen
zusammenrechnet. Ist es so?«
    Ich machte eine Geste, dass es irgendwie so sei.
    Wir verstummten.
    Und weil er schwieg, fragte ich geduldig: »Und was können Sie als
Arzt tun, wenn Sie bei Nacht in eine fremde Wohnung kommen, wo die Lüge eines
Lebens in Form eines Gallensteins brüllt? Oder die Begabung, die in der
Langeweile der Übung und dem Übelkeit erregenden mechanischen Tun sauer
geworden ist?«
    Plötzlich gealtert und beschämt nickte er.
    Â»Ich taste den Bauch ab. Schreibe ein Medikament auf.«
    Traurig stand er auf und drückte mir sehr freundschaftlich beide
Hände. Jetzt war er nicht Arzt, er war ein müder, alter Mann, der bedauert,
dass er machtlos ist.
    Â»Die Musik«, sagte er, »ist die höchste Stufe aller sinnlichen
Erlebnisse. Sie werden übermäßig sinnlich gelebt haben, Maestro. Ich meine,
vierzig Jahre lang mit der Musik im Konkubinat zu leben. Das ertragen nicht
einmal Götter.«
    Â»Nein«, sagte ich, dankbar für die verständnisvollen Worte. »Dieses
Verhältnis ist nicht leicht zu ertragen. Aber was können Sie mir anstelle der
Musik geben?«
    Er breitete die Arme aus, mit einer sehr alten, italienischen
Bewegung, wie die Straßenkünstler, wenn sie vor der staunenden Menge eine
Vorstellung beenden.
    Â»Wenden Sie sich dem Leben zu«, sagte er und lachte über das Pathos
des Satzes. Dann, ohne Übergang: »Möchten Sie Ihre Post sehen?«
    Mit starrem Blick fixierten wir einander.
    Â»Nein«, sagte ich plötzlich. Aber einen Augenblick später, ich

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