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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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weiß
selbst nicht, warum, fragte ich gierig: »Habe ich viele Briefe?«
    Â»Oh«, antwortete er übertrieben. »Einen ganzen Haufen. Ein
gesonderter Beamter sortiert sie im Büro. Aber im Ernst«, versicherte er mit
scherzhafter Feierlichkeit und spöttischer Anerkennung. »Briefe, Telegramme,
jede Sorte Zeichen der Neugier. Die Welt ist dankbar, Maestro«, sagte er leise.
»Besonders in der ersten Zeit.«
    Â»In der ersten Zeit? Haben sie mich schon vergessen?«
    Freundlich nickte er: »Sie haben Sie nicht vergessen, Sie sind ihnen
nur langweilig geworden. Wenn Gott selbst auf die Erde herabstiege, wäre er
ihnen nach drei Monaten auch langweilig. In der ersten Zeit wollten wir Sie
nicht mit der lärmenden und aufdringlichen Anteilnahme der Welt stören. All und
jeder war hier, Maestro: Journalisten, Herren der offiziellen Anteilnahme,
Botschaftsmitarbeiter, Telefongespräche bei Tag und Nacht.«
    Ich wurde aufmerksam: »Die Botschaften auch?«
    Â»Si, si«, sagte er lebhaft, mit
melodischer Begeisterung. »Auch die Botschaften haben sich erkundigt. Besonders
eine, in den ersten Wochen, aus der Hauptstadt Ihrer Heimat, warten Sie nur …
wollen Sie es wissen? Diese Botschaft hat eine Zeit lang jeden Abend
angerufen.«
    Â»Nein«, sagte ich und empfand wieder diese Übelkeit, wie wenn ich an
die Musik dachte. »Ich will es nicht wissen.«
    Aufmerksam musterte er mich unter rasch blinzelnden Augenlidern
hervor. Feinfühlig und höflich sagte er schließlich: »Bitte.«
    Wir schwiegen lange.
    Dann sagte er immer noch sehr freundlich: »Wenn Sie eines Tages doch
Ihre Post sehen wollen, ich glaube, jetzt besteht kein Hindernis mehr. Ich als
Arzt würde es nicht verbieten.«
    Ich setzte mich im Bett auf und schrie beinahe: »Was ist mit mir?
Antworten Sie! Werde ich ganz gesund? Werde ich überhaupt gesund?«
    Ganz leise antwortete er: »Ich glaube, eines Tages werden Sie ganz
gesund. Aber jetzt müssen Sie mithelfen. Wollen Sie?«
    Â»Wie soll ich helfen?« Ich ballte meine kranke Hand in ohnmächtiger
Wut zur Faust.
    Â»Ich habe es Ihnen gesagt«, antwortete er feierlich. »Ihre Seele ist
gesund, Maestro«, begann er großzügig. »Aber Ihr Körper hat auf eine Lüge
geantwortet, auf irgendeine Vergiftung. Ich kann nicht wissen, was die Lüge
ist, aus der in Ihrem Körper und Ihrem Nervensystem eine Krankheit geworden
ist. Das können wir nie wissen. Meist stellt es sich auch nie heraus. Der
Kranke stirbt oder wird gesund, aber über die Lüge erfahren wir nichts Sicheres.
Denken Sie nach. Denken Sie mit solcher Kraft nach wie noch nie in Ihrem Leben,
mit solcher Kraft, wie Sie sie nie im Leben gelebt haben, auch nicht, wenn Sie
am Klavier saßen, in einem Konzertsaal. Ich kann Ihnen das Leben nicht in
Pulverform verschreiben. Eines Tages werden Sie aus diesem Bett aufstehen, ich
könnte sogar schon sagen, Sie werden aufstehen, wann Sie wollen. Aber Sie
müssen wollen, denn sonst setzt auf die Krankheit ein Zustand auf, und aus
diesem Zustand wird eine neue Krankheit.«
    Er sah mich liebevoll an, nickte und ging. Lange lag ich so da.
Cherubina kam herein und brachte mir ein rohes Ei, dann Matutina, sie gab mir
Medizin, dann der Friseur, der mich rasierte. Gegen Mittag kam der Unterarzt,
abgerissen, unrasiert.
    Â»Was ist mit Ihnen?«, fragte er schroff und misstrauisch.
    Er nahm mein Handgelenk, fühlte den Puls und beobachtete meine
Augen.
    Â»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
    Â»Das ist schon langweilig, nicht?«, fragte er und unterdrückte ein
Gähnen, dann pfiff er leise eine modische Gossenmelodie. Er verstummte wie auf
frischer Tat ertappt. »Ich meine, Sie liegen schon seit drei Monaten hier bei
uns.«
    Â»Sehr langweilig«, erwiderte ich. »Der Professor ist auch dieser
Ansicht.«
    Â»War er hier?«, fragte er beiläufig, gleichgültig, als wüsste er,
was jetzt kommen würde, und hätte es schon oft gehört. »Hat er vom Eros
gesprochen?«
    Â»Vom Eros?«, fragte ich überrascht. »Ja, hat er. Woher wissen Sie
das?«
    Â»Damit fängt er immer an«, antwortete er gelangweilt. »Wenn jemand
seit drei Monaten krank ist und weder sterben noch gesund werden will, erzählt
er die kleine Geschichte vom Eros. Hat er nicht gesagt, dass Schwindsucht eine
Charakterfrage ist?«
    Â»Doch«, erwiderte ich und lachte

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