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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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nur
ein Unfall? Wir diskutierten nicht. Ein Sturm schien im Krankenzimmer
ausgebrochen zu sein. Alles rauschte, schwang und zitterte. Ich wusste, dass
sich damals in der Nacht etwas gewendet hatte. Vielleicht wissen Tiere so um
die Gefahr, sie wittern die großen Veränderungen der Natur, die Absicht der
himmlischen und irdischen Kräfte, die ihr Schicksal persönlich beeinflussen.
Ich wusste, dass ich mich nach drei Monaten Krankheit nun entscheiden musste.
Irgendetwas sprach zu mir, und ich hörte ruhig auf die Stimme. Manchmal, in
nüchternen Augenblicken, erinnerte ich mich an die Welt. Ich sah mich selbst,
wie ich auf der Bühne eines Konzertsaales erscheine. Oder wie ich in ein Zimmer
eintrete, wo mich Männer und Frauen mit erwartungsvollen Blicken ansehen. Oder
ich gehe mit E. einen Waldweg entlang. Und zwischen uns diese
Hoffnungslosigkeit. Und hinter allem die Musik. Oder ich erwache in Paris, im
alten Hotel, gegenüber dem Jardin de Luxembourg . Aus
dem Fenster sehe ich die goldbekrönten Herbstbäume und spüre die Nähe des
großen Körpers von Paris. Ich reise auf einem Schiff nach Afrika, im graublauen
Wasser schwimmen Delfine, ich bin vierzig Jahre alt, die Sterne funkeln über
meinem Kopf. All das sah ich, wie wenn jemand in einem alten Fotoalbum
blättert. Ich hatte nichts mehr mit dem zu tun, dessen Namen ich trug, der
diese Situationen erlebt hatte, ich erinnerte mich an mich selbst nur wie an
einen weggezogenen Verwandten oder Freund.
    Ich verstand, dass jetzt etwas anderes geschah, etwas anderes als
Krankheit, Krise, Zerfall, schlechtes körperliches und seelisches
Zwischenspiel. Ich verstand, dass es völlig gleichgültig war, ob ich hier lag,
im hervorragenden Bett, oder auf der Straße, vor dem Tor oder in einer Grube.
Der Professor hätte diesen Zustand als superpositio bezeichnet,
aber ich wusste, dass man nicht mehr die Möglichkeit hatte, sich diesem Zustand
von außen zu nähern. Ich war allein, in etwas eingeschlossen, das keinen Namen
hatte; in Medizinbüchern kennt man diesen Zustand ebenso wenig wie im Leben.
Denn das war nicht mehr das Leben und noch nicht der Tod. Ich verstand, dass
ich die Hände aller Menschen losgelassen hatte und vollkommen allein war; und
jetzt würde etwas geschehen.
    Ich war ruhig.
    In einer Nacht kam eine Schwester herein – ich achtete nicht mehr
auf sie, es war mir gleichgültig, welche von ihnen um mein Bett zugange war –
und gab mir die Spritze. Ich drehte mich zur Wand.
    Â»Löschen Sie das Licht«, bat ich.
    Â»Ja«, sagte sie.
    Eine Hand bewegte sich, der Lichtschalter klickte. Im verdunkelten
Zimmer brannte nur das Nachtlicht, dieses blassblaue, kranke Licht. Eine
Gestalt stand neben meinem Bett, reglos. Im Halbschlaf fragte ich: »Was wollen
Sie?«
    Â»Sie werden sterben«, sagte eine weibliche Stimme, kalt und streng.
    Â»Ich weiß«, antwortete ich.
    Der süßlich-wonnige, schlimme Zauber der Spritze verbreitete sich
schon in meinem Körper und umhüllte mein Bewusstsein mit feinen Nebelschwaden.
Durch diesen milchigen Nebel hörte ich die Stimme, die nicht bekannt war, aber
auch nicht fremd; ich hätte nicht sagen können, wer von den vieren zu mir
sprach, die in diesen Monaten bei Tag und bei Nacht die peinlich-verwirrte Zeit
bevölkert hatten.
    Ich hatte nicht die Kraft, den Kopf zu heben und die Lider zu
öffnen, die mitternächtliche Besucherin in Augenschein zu nehmen, die so
schroff mitfühlend und erbarmungslos ehrlich zu mir gesprochen hatte. Die
Spritze beschwor jetzt die Erinnerung der Musik herauf: Ich sah eine Art Wirbel
– seit langer Zeit zum ersten Mal – und hörte die Klänge Chopins. Und in diesem
nebligen, benommenen Zustand sagte die weibliche Stimme, die Stimme einer der
Schwestern, aus der Höhe: »Ich will nicht, dass Sie sterben.«
    Kalt und dunkel war diese Stimme. Weder Sentimentalität noch Mitleid
lagen in ihr. Als antwortete sie jemandem, als spräche sie nach einer langen
Diskussion, die sie mit sich selbst oder einer fremden Macht geführt hatte, die
letzte Schlussfolgerung aus. Und sie verstummte, als wäre das das Größte, das
sie sagen konnte, mit so harter Betonung, dass sie selbst vor der Konsequenz
ihrer Worte erschrocken war. Wie wenn man spürt, dass man nicht mehr selbst
spricht, sondern der tiefste, dunkelste Sinn des Schicksals, eine Art Gesetz.
Und als hätte

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