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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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Heilung? Die
kann ich auch zu Hause erwarten.«
    Â»Sie wollen überhaupt nicht nach Hause«, sagte er sachlich. Er
blinzelte und war sehr aufmerksam. Einen Augenblick schloss ich die Augen und
sagte: »Das stimmt.«
    Jetzt empfand ich eine Müdigkeit wie vor dem Einschlafen. Als hätte
ich endlich die Wahrheit gesagt. Nein, ich wollte nicht mehr nach Hause, in die
Musik, in E.s Nähe, in mein Leben, nein. Aber wohin wollte ich? In den Tod?
    Ich fragte: »Muss ich sterben?«
    Ich hörte seine ernste, fachmännische Stimme. »Es ist an der Zeit,
dass auch Sie zu arbeiten anfangen. Ich habe das Meine getan«, sagte er
bescheiden, beinahe demütig. Und sah mich traurig an. »Wir alle hier haben das
Unsere getan«, wiederholte er, als wollte er um Verzeihung bitten.
    Ich schämte mich.
    Â»Das stimmt«, sagte ich, auch entschuldigend, leise. »Aber was muss
ich tun?«
    Er sah auf seine Fingernägel, auf seine stumpfen Finger, die kurz
geschnittenen, vom Nikotin gelben Fingernägel.
    Â»Sie müssen gesund werden«, sagte er einfach. »Wir haben alles gegeben,
was wir geben konnten: Spritzen, Strahlen, Blut, Medikamente. Mehr gibt es
nicht.« Er sprach schlicht wie ein Händler, der ankündigt, dass seine Ware
ausgegangen ist. »Und dennoch haben Sie nicht ganz recht. Es stimmt nicht, dass
ein Mensch dem anderen nicht helfen kann.« Jetzt wurde sein Ton lauter und
erregter. »Hören Sie? Nur der Mensch kann dem anderen Menschen helfen. Nur ein
Mensch kann dem anderen Kraft geben, wenn er Probleme hat. So viel habe ich
gelernt«, rief er besonders leidenschaftlich und heiser. »Nicht auf der
Universität habe ich das gelernt, sondern hier, bei den Kranken, bei tausend
und abertausend Kranken. Es stimmt nicht, dass es keine Hilfe gibt. Man muss
nur den Menschen finden, der hilft, wenn man allein ist und nicht mehr leben
will. Wissen Sie, so wie manchmal ein Mensch dem anderen Blut spendet, wenn die
Blutgruppen übereinstimmen. Nicht nur Blut kann man spenden. Auch anderes,
mehr.«
    Â»Wo ist dieser Mensch?«, fragte ich.
    Beinahe streng sagte er mit der Gleichgültigkeit des Fachmanns: »Das
ist Ihre Sorge.«
    Und er ließ mich allein. Noch durch die geschlossene Tür hörte ich
seine plumpen Schritte und sein Pfeifen.
    Dieses Gespräch fand am Vormittag statt, am Nachmittag brachen
heftige Schmerzen über mich herein. Sie brachen tatsächlich über mich herein
wie ein kleines Heer von Teufeln, als wären sie aus einem zurückgelassenen
Traumbild des Florentiners Dante hervorgekommen, pechtriefende Bestien mit
brennenden Zangen und glühenden Zähnen. Gegen Mitternacht bekam ich die Spritze
– Matutina war an der Reihe –, und um vier Uhr am Morgen läutete ich wieder.
Jetzt kam Cherubina, die Schöne. Geduldig und mit großem Mitleid beugte sie
sich über mich. Ich nahm ihre Hand, sie ließ es zu: »Das dürfen wir nicht,
Maestro«, sagte sie. »Der Herr Professor hat es streng angeordnet. Eine einzige
Spritze dürfen wir Ihnen in der Nacht geben. Ich gebe Ihnen etwas anderes.«
    Â»Das brauche ich nicht«, sagte ich. »Sie wissen, dass es nichts
anderes gibt. Nur dieses eine hilft.«
    Â»Ich weiß«, sagte sie und seufzte.
    Ihre sanften braunen Augen leuchteten mit warmem Licht.
    Â»Sie dürfen sich nicht daran gewöhnen«, sagte sie. »Deshalb das
alles. Leiden Sie sehr?«
    Ich musste nicht antworten. Sie legte mir die Hand auf die Stirn.
Weich und sanft war diese weibliche Hand, in deren Berührung immer eine gewisse
Vertrautheit lag; solche Hände heben den Menschen im Augenblick der Geburt auf
die Welt.
    Â»Geben Sie mir eine stärkere Spritze«, bat ich.
    Â»Wir haben die Dosis schon erhöht«, sagte sie sorgenvoll und
vertraulich. »Diese Steigerung geschieht sehr schnell, bitten Sie nicht darum,
Maestro. Sie müssen gesund werden. Sie können sehen, dass wir an Ihre Heilung
glauben, sonst würde ich Ihnen so viele Spritzen geben, wie Sie wollen.
Maestro, wie schrecklich es ist, wenn man sich daran gewöhnt! Und die Ärzte,
wenn sie sich daran gewöhnen«, sagte sie leise, im Flüsterton. »Manche stechen
sich die Nadel in den Kopf, unters Haar, damit es niemand sieht, und lügen,
sind zu allem fähig. Wir hatten hier einen Unterarzt, der stahl den sterbenden
Krebspatienten die Dosis aus der Spritze und spritzte den

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