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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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mit gelähmtem Gesicht. »Sagt er das
auch immer, wenn jemand weder sterben noch gesund werden will?«
    Â»Na klar.« Er nickte. »Er überredet die Kranken dann, gesund zu
werden und sich mit dem Leben zu beschäftigen.« Er zuckte mit den Schultern.
»Aber das ist nicht so einfach. Ich beispielsweise gehe auf beiden Beinen und
bin allen Anzeichen nach gesund. Und trotzdem weiß ich nicht, wer von uns
beiden der Krankheit näher steht. Sie, der Sie seit drei Monaten im Bett
liegen, oder ich, der ich heute Abend in die Oper gehe.«
    Er wandte mir den Rücken zu.
    Â»Verzeihung«, sagte er. »Ich habe von mir selbst gesprochen.«
    Seine Stimme war traurig wie manche Töne in der Musik. Er tat mir
leid.
    Â»Was fehlt Ihnen?«
    Â»Wissen Sie«, sagte er anstelle einer Antwort über die Schulter
hinweg. »Er hat recht. Nur sind diese Wahrheiten in der Praxis nicht realisierbar.
Und weil er Arzt ist, hat er fertige Methoden, Rezepte, Medikamente und Wörter
wie Eros und Vergiftung und superpositio. Aber all
das heilt nicht.«
    Â»Was fehlt Ihnen denn?«, fragte ich streng.
    Â»Die Musik selbst, die Kunst und die Liebe heilen auch nicht«, sagte
er eigensinnig und sah mich nicht an. Als schlüge er voll schlechten Gewissens
die Augen nieder, als wollte er trotzig nicht antworten und spräche deshalb
über etwas anderes. »Das sind alles Zugaben. Die Wirklichkeit, die man Leben
und Gesundheit nennt, ist mehr und doch weniger als diese superlativischen
Erlebnisse. Die Wirklichkeit ist wie ein Mittelmaß, das man auf einem Niveau,
auf gleicher Temperatur warm halten muss. Aber wenn ich sagen könnte, wo dieses
Mittelmaß liegt, wäre ich der beste Lehrer, Erzieher und Arzt der Welt, der
Retter der Menschheit. Doch das bin ich nicht.« Jetzt sah er mich an, beinahe
kindlich, verlegen. Und er lachte mit schlechtem Gewissen.
    Â»Sie sind ein Schamane«, sagte ich freundlich. »Ein
Himmelsreisender. So haben Sie gesagt, nicht wahr?«
    Er lachte: »Ein Schamane, der den Fahrplan der Himmelsstraßen nicht
kennt.« Er musterte mich. »Nein, Maestro, vertrauen Sie uns trotzdem. Wir
werden Sie elektrisieren. Aber vertrauen Sie uns nicht zu sehr. Es gibt andere
Kräfte auf der Erde als chemische Spritzen, Messer und Stromstrahlen.«
    Er sah auf meine Hände.
    Â»Strecken Sie die Hände aus.«
    Er untersuchte Finger für Finger. Zuckte mit den Schultern, wie
immer, wenn er machtlos und nervös eingestand, dass er weder antworten noch
helfen konnte.
    Â»Ja, ja.« Er beugte meine Finger wie einen Gegenstand aus
beweglichen Teilen. »Hervorragend«, sagte er zerstreut und schickte sich an zu
gehen.
    Immer war er so unaufmerksam, schlampig, als lungere er in einem
Wiener Kaffeehaus herum und nicht im Patientenzimmer eines Krankenhauses. Er
achtete nicht auf meine Worte, starrte aber dann mit aufgerissenen Augen und
offenem Mund mich oder meine Hände an, irgendein Symptom der Krankheit, mit
plötzlichem, elektrisiertem Interesse. Ein Wutanfall überkam meinen Körper, der
Affekt ließ mein Bewusstsein aufblitzen. Ich setzte mich im Bett auf und
schrie: »Was geschieht hier mit mir?« Ich hörte meine heisere, schreiende
Stimme. »Was ist das für ein Betrug? Warum gehen Sie jetzt weg, wenn Sie mir
nicht helfen können? Und warum kommen Sie überhaupt in mein Zimmer, Sie und die
anderen? Und was wollen Sie mit diesem Geschwätz von Eros, dem Leben, den Lügen
und den Himmelsreisen? Wissen Sie, was die Lüge ist? Dass ein Mensch dem
anderen helfen kann. Es reicht!«
    Mit verschränkten Armen stand er in der Tür, den Kopf zur Seite
geneigt, hörte mir aufmerksam, ohne Überraschung zu und nickte.
    Dann sagte er leise: »Ich glaube, Sie haben nicht ganz recht.«
    Â»Was habe ich?«, kreischte ich und beugte mich aus dem Bett.
    Â»Wollen Sie schon wieder einen lateinischen Namen?«, fragte er ruhig
und entgegenkommend.
    Â»Den habe ich schon gehört.« Ich verschränkte ebenfalls die Arme und
saß feierlich im Bett. »Aber darüber hinaus, was ist mit mir? Warum bin ich
hier? Warum werde ich nicht gesund? Ich will nach Hause«, sagte ich, wurde
plötzlich sehr müde und ließ mich in die Kissen zurücksinken.
    Breitwillig erwiderte er: »Fahren Sie nicht nach Hause. Es ist noch
nicht entschieden.«
    Â»Was ist noch nicht entschieden?«, fragte ich. »Die

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