Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
Vom Netzwerk:
sie sich entschlossen, ob sie wollte oder nicht, diesem Gesetz
nachzugeben.
    Ich lag in wonnigem, taubem Halbschlaf da. Mit letzter Kraft – und
ich öffnete dabei nicht die Augen – fragte ich lallend: »Warum wollen Sie
nicht, dass ich sterbe?«
    Jetzt folgte langes Schweigen. Eine der Pausen, die auch in der
Musik dem tragischen Ausklang vorangehen, dem forte ,
die beinahe unerträgliche Pause, in der alle irdischen, menschlichen und
überirdischen Leidenschaften sich zwischen zwei Verbindungen im Schweigen
verdichten. Das Handwerk und das Leben schmolzen jetzt in diesem Schweigen für
mich zum ersten Mal zu einer Einheit zusammen – ich verstand, schon halb am
Ufer des Todes, dass es in der Musik, wie im Leben, eine letzte Berührung gibt,
eine letzte mathematische Harmonie, und dies war der Augenblick, in dem eine
Harmonie entschied, ob sie Leben wird oder Tod. Ich wartete auf die Antwort der
unfreundlichen, spröden Stimme. Und noch durch die geschlossenen Lider glaubte
ich die Gestalt an meinem Bett stehen zu sehen, mit verschränkten Armen,
reglos, ausdruckslos, mit strengem Gesicht und starrem Blick sah sie über mich
hinweg – sie sah in den Nebel, ins Nichts, in jenen anderen Zustand, in dem
nicht das wahrnehmende Auge etwas sieht, sondern die Seele. All das sah ich
oder glaubte es zu sehen; aber die Gestalt hatte kein Gesicht. Wie ein strenger
Mitternachtsengel stand diese Person mit der Verhängnisstimme im Dunkeln über
meinem Schicksal. Und beantwortete meine Frage nicht.
    Vielleicht vergingen Augenblicke, vielleicht eine Stunde. Ich
schlief ein. Am Morgen erwachte ich davon, dass das Zimmermädchen vor meiner
Tür herumkramte. Ich öffnete die Augen, betrachtete die Morgenlichter und
spürte …

4.
    Hier bricht das Manuskript ab. Die flüssige Schrift mit
den kleinen Buchstaben zerbricht mitten auf der Seite. Auf der folgenden Seite
steht mit erregten, größeren, wirren Buchstaben:
    Â 
    Der Sinn ist nichts. Die Leidenschaft ist
alles. Vielleicht das, was Goethe Idee genannt hat und Platon und die anderen,
die wussten, dass der Sinn der Wirklichkeit die Leidenschaft ist, die hinter
den Formen leuchtet. Leidenschaft ist mehr als Lust. Aber das kann ich
niemandem sagen. Vielleicht, wenn noch einmal die Musik …
    Â 
    Hier ist der Einschub zu Ende. Die eingeschobene Seite ist
ansonsten leer. Und auf der folgenden Seite fährt die Handschrift mit den
kleinen Buchstaben in der Geschichte fort, wie es hier folgt.

5.
    â€¦ Jeden Morgen wurde ich um neun Uhr gebadet, jeden Morgen
von einer anderen, aber meistens von Cherubina, der Schönen. Sie nahm mich am
Arm, zog mich an sich und brachte mich eher ins Bad, als dass sie mich begleitete.
Sie zog mich nackt aus, half mir, in die Wanne zu steigen, genauer gesagt hob
sie mich mit ihren starken Armen in die Wanne. Sie krempelte sich die Ärmel des
Nonnengewands hoch, schloss die Tür und ging in dieser traurigen Vertrautheit
daran, mich sauber zu waschen.
    Diese Vertrautheit war nicht mehr neu für mich; ich musste mich
nicht an sie gewöhnen, weil sie sich mit der strengen Ernsthaftigkeit
natürlicher menschlicher Situationen herausgebildet hatte. In den ersten Tagen
der Krankheit, in halber Bewusstlosigkeit, hatte sie begonnen, und später, als
mein Zustand sich besserte und die Kontrolle über das Bewusstsein wiederkehrte,
war es bereits eine natürliche, gewohnte Situation, die für keinen von uns
sonderbar war, wie sie es sonst gewesen wäre in der anderen Welt der Gesunden.
»Scham« – dieses Wort war mir in diesem Zustand genauso unbekannt, als wäre es
ein einsilbiges, unzugängliches Wort einer fremden Sprache. Scham ist nur da,
wo Verlangen ist und Schuldbewusstsein; aber die Krankheit hatte das Verlangen
in meinem Leib erstickt und mich vom Schuldbewusstsein befreit. Mein nackter
Leib war für die schöne Cherubina kein Männerkörper, der geheime Gedanken in
einer jungen Frau wecken konnte. Ebenso bedeutete mir die Situation, nackt wie
aus dem Mutterleib im Badewasser in den Armen einer schönen jungen Frau zu
liegen, in diesen Monaten nichts anderes, als dass ich krank und hilflos war
und eine Schwester meinen Körper von der Schlacke der Krankheit reinigte. So
wurde ich gebadet, jeden Morgen, von einer der vier Nonnen; meist von
Cherubina, die aus irgendeinem Grund öfter am Morgen Dienst hatte.
    Was konnte unter uns fünfen

Weitere Kostenlose Bücher