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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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denn das Wort »Scham« noch bedeuten?
Kann ein menschlicher Körper seine traurigen Geheimnisse hilfloser einem
anderen Menschen übergeben, als mich die Krankheit diesen vier weiblichen Wesen
ausgeliefert hatte? Mich und all die anderen in den Einzelzimmern und den
Krankensälen, heute und gestern und vor Jahren, Tausende von Kranken, Frauen
und Männer? Was kann eine Hetäre mehr und Wirklicheres über den Körper wissen
als die schöne, jungfräuliche Cherubina und die strenge Charissima, die
feierliche Matutina oder die schadenfrohe Dolorissa? Das Baden, die Spritzen,
die bewusstlosen und hysterischen Anklagen und Forderungen der gepeinigten Körper,
der rohe Geruch ihrer Ausscheidungen, die vollkommene und absolute
Vertraulichkeit, mit der die kranken Körper den Schwestern ihre Geheimnisse
offenbarten. Gibt es eine menschliche Situation zwischen Mann und Frau, Mann
und Mann oder Frau und Frau, ja zwischen Mutter und Kind, die vertrauter ist,
absoluter, auf Leben und Tod ehrlicher, als die meine vor diesen vier Frauen
war? Ist es vorstellbar, dass Verliebte, jenseits der Grenze, wo die ersehnte
Lust und Vereinigung in persönlicher Auflösung mündet, nicht ein körperliches
Geheimnis voreinander bewahren, im Dunklen oder im Hellen? Nicht einmal die
abartigste Vorstellung, die in Medizinbüchern beschriebenen kranken sexuellen
Sehnsüchte und Situationen wissen etwas von dieser Vertrautheit, die im und am
Bett eines Schwerkranken zwischen dem kranken Körper und seinem Pfleger
entsteht. Denn die Perversen, die Unersättlichen, die Hilflosen, jene, die alle
Grenzen des Geschmacks und der Moral überschreiten, sind irgendwo, in
irgendeinem Teil dennoch bemüht, ihre Individualität zu bewahren; das ist immer
das Geheimnis, in dem sie sich unterscheiden, das sie nicht aufgeben können,
das sie und ihre Besonderheit bedeutet. Doch ein kranker Körper hat kein
Geheimnis. Die Notwendigkeit der Verdauung, der Schmerz, die Hilflosigkeit,
dieser urmenschliche Zustand, der ungebundener ist als die Offenbarungen
Verliebter und Lüsterner, als die körperliche Vertrautheit zwischen Mutter und
Kind, diese nüchtern-ernsthafte Vertrautheit kann nur zwischen dem Kranken und
seinem Pfleger entstehen. Die Krankheit ist ein Urzustand, sie kennt keine
Scham.
    Und sahen diese vier Frauen den menschlichen Körper wirklich nicht
mehr mit den Augen einer Frau an? Manchmal war ich davon überzeugt, dass sie es
doch taten. Sie waren nicht schamhaft, nicht wehleidig und prüde, hinter der
Nonnentracht lebten aufmerksame Seelen und lebendige Empfindungen. In ihrem
Ernst spürte ich manchmal Spott, hinter ihrer Routine eine schadenfrohe gute
Laune. Sie waren bei scherzhaften Bemerkungen und körperlichen Anspielungen
nicht beleidigt. Sie kannten die Unterwelt des Körpers, bewegten sich heimisch
inmitten der Traurigkeiten und Schrecken dieser Unterwelt. In den vergangenen
Monaten war mir nie in den Sinn gekommen, dass diese Lebewesen, die mich badeten,
trockenlegten, fütterten, die tierischen Bedürfnisse meines halb gelähmten
Körpers zu verrichten halfen, mein Elend anders sehen könnten als mit einer
sachlichen Überlegenheit. In dieser tiefen und düsteren Vertrautheit lag
überhaupt keine Sexualität, jedenfalls glaubte ich das. Aber an dem Morgen nach
der Nacht, in der eine Stimme über meinem Bett gesagt hatte: »Ich will nicht,
dass Sie sterben!«, als Cherubina, wie so viele Male zuvor, meinen kranken und
hilflosen Körper im Badewasser reinwusch, bemerkte ich zum ersten Mal, dass ich
mich schämte.
    Cherubina reichte mir erstaunt, mit bereitwilliger Eile das
Handtuch. Mit der unschuldigen Stimme eines Kindes und Engels fragte sie:
»Fühlen Sie sich nicht wohl, Maestro? Ist das Bad zu heiß?«
    Nein, in dieser Stimme klang kein Schuldbewusstsein. Das war
Cherubinas melodische Bauernstimme, sachlich und sanft. Ich strengte mich an,
stand in der Wanne auf, wandte Cherubina den Rücken zu und duldete, dass sie
mir das Badelaken überlegte. Mit muskulösen Händen begann sie mich zu rubbeln
und abzutrocknen und fragte beiläufig mit zerstreuter Höflichkeit: »Haben Sie
nicht gut geschlafen? Hatten Sie eine schlechte Nacht?« Ich achtete auf ihre
Stimme, mit geschlossenen Augen und dem Gehör des Musikers, der den Wert und die
Schattierung eines jeden Klanges genau kennt. Ich wollte die Stimme aus

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