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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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der Krankheit noch immer
für mich lebte. Wieder und wieder kehrte sie zurück und begleitete mich, die
Erinnerung an den Augenblick, in dem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte: in
der Oper, in der Pause, auf dem Promenadenkorridor, wo sie an einem Tisch einen cercle veranstaltete, wo sie, im ausgeschnittenen
weißen Kleid, die übertriebene Weiße ihres nördlichen Leibes vor den Menschen
funkeln ließ, die Zigarette in der Hand und um sie noch der Nebel der
Nibelungen. Ich sah sie und erkannte sie, als trüge sie ein Zeichen, und jetzt
verstand ich dieses besondere Wort, den eigentlichen Sinn des »Erkennens«, das
nichts anderes ist, auch laut der Bibel nichts anderes ist, als die
Liebesvereinigung. In der Bibel »erkennen« Mann und Frau einander, wenn ein
Leben mit Worten und Bewegungen der Liebe sein Siegel auf ein anderes Leben
drückt. Dieses »Erkennen« ist das Größte, das ein Mensch dem anderen geben
kann.
    Irgendwo lebte E. noch für mich, in einer Stadt im Ausland – ich
wusste nichts mehr von ihr als das Wesentliche, dass sie lebte und dass,
solange ich lebte, dieser kalte Leib und die heiße, edle Erinnerung etwas für
mich bedeuteten. Wo mochte sie jetzt leben? Im Herbst hatten sie vorgehabt,
nach Griechenland zu gehen. Ich musste nur die Hand ausstrecken, musste nur der
wachenden Schwester Bescheid sagen, und schon würde mir die Post aus dem Büro
gebracht werden, und gewiss würde ich in dem Briefstapel etwas
Handschriftliches finden, ein Telegramm, das die Erinnerung an E.
heraufbeschwor. Das traurige und beklemmende Warten, das die Begegnungen dieser
vier Jahre durchdrungen hatte; die Erregung, die am Grund der Szenen dieser
Freundschaft glühte, voll von bemänteltem Verlangen und latenter Leidenschaft;
das sonderbare Lebensgefühl, in dem mehr Traurigkeit lag als Wollust und in dem
das Wort der Leidenschaft sich in der Liebessprache der Musik wandelte wie ein
eigenartiges, erregendes, ermüdendes, verzehrendes Duo von melodischer Frage
und Antwort. Diese Erregung und dieses Warten blitzten in jenen Tagen noch
einmal in mir auf. Wieder spürte ich, noch einmal und zum letzten Mal im Leben,
die neugierige Beklemmung, die man nur in der Anfangsphase großer, absoluter
Begegnungen empfindet. Wieder hatte jemand zu mir gesprochen. Was wollte sie?
Liebe? Welch lächerliche und groteske Vorstellung in dieser Situation, in der
Situation des kranken alten Mannes und der unbekannten Gefährtin. Und dennoch,
so unvorstellbar diese Vermutung war, wusste ich doch mit jedem kranken Nerv
meines sterbenden Leibes, dass eine Frau mit mir und von mir etwas wollte.
    Und das Leben im Krankenbett füllte sich mit Strom und Erregung.
Denn das Wort, das damals in der Nacht erklang, war ein Bekenntnis; und dieses
Bekenntnis war zugleich düster und absolut. Es war ein Bekenntnis, wie es nur
Menschen verschiedenen Geschlechts einander zuflüstern. Ein Bekenntnis im
Dunkel der Nacht, ein verhängnisvolles, trauriges Bekenntnis, das alle
Zurückhaltung und Erwägungen beiseitefegte. Ich verstand, welcher Drang die
Schattengestalt damals in der Nacht in dieses Zimmer geführt haben musste; die
Tage und Nächte vergingen, und immer klarer tönte für mich im Klang der
Erinnerung die ernsthafte und absolute Leidenschaft dieses Bekenntnisses. Und
weil ich schon alt war und in der Krankheit noch anders, mit allen Schichten
der Seele gealtert war, war ich auch dazu gereift, die Kraft und Größe dieses
Bekenntnisses vollkommen zu empfinden. Denn das Wort, das sich junge Menschen
ins Ohr flüstern, das keuchende Stammeln, mit dem Mann und Frau einander ihr
heißes Geheimnis zuraunen, all das schien ein unvollkommenes und stümperhaftes
Lallen zu sein für mich, der ich nach so viel Geständnissen, Lügen,
Begeisterungen, Selbsttäuschungen noch einmal den Augenblick erlebte, in dem
eine Seele durch einen Körper mit aller Lebenskraft einen anderen Menschen zum
Leben ruft. Ich wusste, dass dies das Wunder war, das einzige mögliche Wunder
für einen Menschen unter Menschen.
    Sechs Tage vergingen so. Dann beschloss ich, nicht zu sterben.
    Nach großen Krisen und ernsten Krankheiten tritt die Heilung
genauso anfallsartig ein, wie die Krankheit ausgebrochen ist. Eines Nachts
schlief ich tief – das sonderbare Versteckspiel dauerte schon seit einer Weile
an, der Körper war müde, und ich konnte nicht ewig

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