Die Schwester
achtgeben, wer an meinem
Bett wachte â, und am Morgen erwachte ich, und ⦠Aber die genauen Worte fehlen
immer, wenn wir von wesentlichen Veränderungen des Lebens berichten wollen.
Wachte ich auf und »war geheilt«? So kann ich es nicht sagen. Ich war nicht vom
Abend bis zum Morgen »geheilt«, ich gehörte nur nicht mehr dem Tod. Und das sah
die Schwester, die am Morgen in mein Zimmer kam und die Nachtschicht ablöste.
Charissima, die kranke Schwester, hatte in der Nacht in meinem Zimmer gewacht,
und das liebe, freundliche Gesicht von Cherubina begrüÃte mich an diesem
Morgen.
»Maestro«, sagte sie mädchenhaft und schlug begeistert die Hände
zusammen. »Jetzt wird alles gut!«
Sie sagte das mit der Freude des Fachmanns, der die Bedeutung der Symptome
genau kannte und mir am Blick und am Gesichtsausdruck ansah, dass eine schwere
Operation gelungen, dass etwas »geschehen«, nach den Regeln der Kunst eine
Wende eingetreten war, auf die alle gewartet, aber an die nicht mehr alle
geglaubt hatten. Ich hörte diesen Freudenausbruch und zwinkerte schlau, als
wüsste ich etwas, wollte aber noch nicht reden. Ich schwieg mit der knauserigen
Schläue Kranker, denn auch ich wusste, mit meinem ganzen Körper und Schicksal
wusste ich, dass in dieser Nacht die Wende »geschehen« war, über die wir in den
vergangenen Monaten ohne Worte diskutiert hatten.
Die Heilung war »ausgebrochen«; der Professor kam an diesem Morgen
früher, und natürlich schlug er nicht die Hände zusammen und war nicht
begeistert wie die fromme und nette Cherubina; er blieb nur vor dem Bett
stehen, drehte sich eine Zigarette, sah mich manchmal an und beobachtete dann
wieder seine langen weiÃen Finger, die mit Tabak und Zigarettenpapier
hantierten. Lange stand er so da, spähend, schweigend, zweifelnd; dann lächelte
er. Seine Augen, sein Gesicht und sein Mund füllten sich mit diesem Lächeln wie
mit Licht, jetzt sah ich, dass dieser Mann wirklich gut war. Dies war nicht das
Lächeln der »Freude«, auch nicht die Genugtuung des Arztes, sondern eher eine völlige
und bereitwillige Heiterkeit, wie wenn jemand in der hoffnungslosen Finsternis
des Lebens das Dämmern des aufbrechenden Lichtes erblickt und weiÃ, dass dieses
Licht unstet und vergänglich ist und die Finsternis dichter und hartnäckiger,
und sich dennoch freut. Er sagte nichts, er drückte mir nur die Hand und ging
mit raschen Schritten aus dem Zimmer wie jemand, der vermeiden will, dass
andere seine Gefühle wahrnehmen.
Ich läutete und bat um meine Post. Die Tür öffnete sich, und ein
Angestellter brachte lächelnd das umfangreiche Paket. Die Welt hatte mich nicht
vergessen. Alle, alle hatten die Stimme erhoben: Freunde und Feinde, Kollegen
und Dankbare, Bekannte und Wildfremde; Briefe, Postkarten und Telegramme,
getreu festgehaltene telefonische Botschaften zeugten davon. Ein sentimentaler
Strom des Dankes überströmte meinen erschöpften Körper mit heiÃen Wogen. Die
Welt sprach zu mir; in zeitlicher Reihenfolge durchblätterte, öffnete ich diese
in Handschrift und Druck festgehaltenen menschlichen Signale. Schüler,
Unbekannte, die sich nur aus dem Konzertsaal an mich erinnerten, unpersönliche
Artikelverfasser, noch fremder als Unbekannte, die in Zeitungen von meiner
Krankheit berichteten, die mich schon ein wenig begruben und betrauerten â und
welch höllisches Vergnügen, welche Genugtuung war es jetzt, durch das Pathos
in- und ausländischer Federn meine eigenen Trauerreden zu lesen! â, Freunde,
deren freundschaftliches Gefühl in den vergangenen Jahren schon zu müde
geworden war, als dass es in Augenblicken des Erfolges ein Zeichen des
Mitempfindens gab, die jetzt aber mit heftiger Bereitschaft sprachen, als die
Engel von Gefahr und Zerstörung um mich kreisten; taktvolle und
überschwängliche, höfliche und kalt überlegene Interessebekundungen. Die Welt,
zu der ich gehörte, sprach wieder zu mir. Ich staunte, wie bevölkert diese Welt
war! Ãber der von den Explosionen des Krieges in Parteien, in Hasslager
zerrissenen Welt lebte in diesem Postpaket eine andere, menschlichere,
gebildetere, empfindsamere Welt und schickte Zeichen der Anteilnahme. Und auch
das war Wirklichkeit, mindestens so wie die unbarmherzigen Kriegsnachrichten.
Es war Wirklichkeit, dass ein gefährlicher Augenblick eines
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