Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
bescheidene Laden ernährte Wilhelmine und ihren Sohn knapp, es würde für ihre Geschäfte wenig förderlich sein, wenn eine wie sie aus dem Hinterzimmer kam. Sie wusste, dass sie nicht wie ein Muster an Reinlichkeit wirkte, keiner aus den Gängevierteln tat das, dort gab es nun mal zu viel Schmutz und zu wenig reines Wasser, besonders, wenn auf den Fleeten noch Eis war.
Als Janne in den Hof trat, ging im Westen, weit hinter der Elbe und den roten Dächern, die noch winterlich blasse Sonne unter. Der Lärm der Stadt klang nur gedämpft herein, und die Ausdünstungen der Gerberei waren für ihre an üblen Gestank gewöhnte Nase unerheblich, umso mehr, als sie sich mit dem Geruch der Holz- und Torffeuer vermischten, deren Qualm aus den Schornsteinen aufstieg. Wenn sie vor der Dunkelheit zu Hause sein wollte, musste sie sich beeilen. Sie seufzte, und ihre Schritte wurden langsamer.
Zu Hause. Dort war niemand. Es wurde erst wieder zu einem Zuhause, wenn Matthes und Jakob zurück waren oder ihre Tochter wieder im Land und an einem ihrer seltenen freien Tage zu Besuch kam – Anna, schon eine junge Frau von vierzehn Jahren in guter Stellung. Anna würde nie erleiden, was Elfchen passiert war. Für Anna gab es jemand, der aufpasste und da war, wenn ihr ein Unrecht geschah.
Sie eilte lächelnd weiter. Anna war klug, fleißig und sauber. Vor allem aber war sie eine aufrechte junge Person, die sich nicht leicht beugen ließ. Janne war stolz auf ihre Tochter und ganz besonders darauf, auf dieses Aufrechte. Ihr eigenes Leben war kein Honigschlecken, trotzdem war es alles in allem nicht so schlecht, wie es hätte werden können. Ein besseres hatte das Schicksal für sie eben nicht bereitgehalten, sosehr sie sich auch abgerackert hatte. Aber die beiden ihrer fünf Kinder, die ihre ersten Jahre überlebt hatten und zu gesunden jungen Menschen herangewachsen waren, würden es besser haben. Sie würden es schaffen, ganz sicher. Dafür hatte es sich alles gelohnt.
Manchmal erinnerte ihre Tochter sie an Elske, ja, ein bisschen war Anna tatsächlich, wie Elske in diesem Alter gewesen war. Erst bei diesem Gedanken fiel ihr auf, dass Wilhelmine nicht gefragt hatte, ob sie auch auf dem Borgesch gewesen war, ob Elske, die ja vor den Toren lebte und der vieles, was in der Stadt geschah, entging, von Wandas Tod wusste.
Sie hatte es vergessen. Oder es war ihr egal. Auch das war möglich, bei Wilhelmine konnte man da nie sicher sein.
Ein paar Gassen und Brücken weiter südlich auf der Wandrahminsel hing eine andere Frau ihren und damit ganz anderen Gedanken nach. Um ein paar Torfsoden oder eine Kerze musste Augusta Kjellerup sich keine Sorgen machen. Die Räume, in denen sie sich aufhielt, waren stets angemessen geheizt, sie war zeit ihres langen Lebens immer satt geworden, sie hatte niemals andere als reine Kleidung aus guten Stoffen getragen, die sie auch nie selbst hatte waschen müssen. Wenn sie ausgehen wollte und ihre Füße zu müde waren, ließ sie Brooks mit der Kutsche vorfahren, war der Weg nur kurz, bestellte sie eine Sänfte. Anders als die meisten Damen ihrer wohlhabenden Bekanntschaft wusste sie das als Bequemlichkeit zu schätzen. Augusta ging mit wachen Sinnen durch die Welt, sie übersah nie, dass es auch in dieser reichen Stadt mehr Elende als Glückliche gab, und sie wusste, wie schmal der Grat dazwischen sein konnte. Dass Wohlstand und Glück nach dem Maß der persönlichen Frömmigkeit und Verdienste verteilt wurde, glaubte sie schon lange nicht mehr. Dann müssten einige der Reichsten bettelarm und voller Jammer sein.
Augusta war als junges Mädchen nach Kopenhagen verheiratet worden, weil es den Geschäften ihrer Familie förderlich war. Als schüchternes, überaus gehorsames Kind wäre ihr niemals eingefallen, ihren Eltern zu widersprechen, besonders in einer so wichtigen Angelegenheit. Der Himmel war auf ihrer Seite gewesen – sie hatte sich in Thorben verliebt und er sich in seine Braut. Sie waren glücklich geworden, im Vergleich zu ihrem nun schon so langen Leben für viel zu kurze Zeit. Drei ihrer vier Kinder starben, noch bevor sie lesen und schreiben konnten, an Scharlach, der Jüngste blieb dann mit fünfzehn Jahren auf seiner ersten Fahrt auf See. Wenige Jahre später hatte auch ihr Mann sie verlassen – so hatte sie es empfunden. Es war nur ein Zufall, dass er just auf dieser Fahrt an Bord war, als eines seiner Schiffe in der Biskaya unterging. So wenig wie die glücklichen Zeiten würde sie die
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