Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
dunklen Jahre vergessen, am wenigsten dieses besonders schwarze, als er sie allein zurückgelassen hatte.
Irgendwann war ihre Welt wieder heller geworden, irgendwann hatte sie für das dankbar sein können, was ihr Leben zuvor so reich gemacht hatte. Auch für das, was Thorben ihr hinterlassen hatte: die Erinnerung an seine Liebe und wärmende Gegenwart, seine Heiterkeit und Zuversicht, die sie sich zu eigen gemacht hatte. Und den Reichtum, der ihr ein komfortables Leben ermöglichte. Sie hatte nie auch nur erwogen, ein zweites Mal zu heiraten, obwohl es an Bewerbern nicht gefehlt hatte, wie bei jeder wohlhabenden Witwe.
Sie hatte lange gezögert, bevor sie nach Hamburg zurückkehrte, in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend, ihr behaglich geruhsames Witwendasein hatte ihr gefallen. Tatsächlich war es ziemlich langweilig gewesen, womöglich war sie nicht nur in das turbulente Haus am Neuen Wandrahm eingezogen, weil ihr Neffe Claes seinerseits verwitwet war und erfahrene weibliche Hilfe bei der Führung seines großen Haushalts und der Erziehung seiner Kinder, insbesondere seiner Tochter Sophie brauchte. Nun war sie hier glücklich, offenbar hatte sie dazu ein besonderes Talent. Himmel, ja, es waren turbulente Jahre gewesen, inzwischen ein gutes Jahrzehnt, und genau das hatte sie genossen. Da war zuerst Sophies Hochzeit und ihre Übersiedlung nach Lissabon gewesen, der Skandal der Scheidung, der vielleicht noch größere Skandal ihrer neuen Verbindung mit einem Handelskapitän, der genau genommen eher ein Freibeuter des englischen Königs gewesen war.
Und Anne Roberts. Bei diesem Gedanken wurde Augustas Lächeln breit und warm. Es hatte einiger Nachhilfe und Schubse bedurft, bis Claes endlich begriff. Fast wäre es zu spät gewesen, aber alles war gut geworden und aus Anne Roberts Madam Herrmanns. Augusta liebte Anne wie eine Tochter, die sie nicht hatte.
Sicher war auch das ein Grund, warum sie seit einigen Jahren zur heimlichen Gönnerin des Waisenhauses geworden war. Ihre eigenen Kinder hatte sie verloren, diesen fremden, kleinen Menschen ohne Familien wenigstens mit ihrem Geld ein wenig zu helfen tat ihr wohl. Sobald Anne mit Elsbeth von Jersey zurück war, würde sie auch dafür sorgen, dass wieder ein Kostkind als Hilfe für die Küche ins Haus kam. Niemand konnte besser für so ein Mädchen sein als Elsbeth, schließlich war sie vor sehr vielen Jahren selbst auf diese Weise in das Haus am Neuen Wandrahm gekommen.
Es war auch Elsbeth gewesen, die sie darauf aufmerksam gemacht und mehrfach nachdrücklich daran erinnert hatte, dass es im Waisenhaus immer an irgendetwas fehlte. Inzwischen war Augusta dafür berüchtigt, dass sie, wo immer sie eingeladen wurde, irgendwann das Gespräch auf die Kinder brachte, deren Wohl von der Nächstenliebe fremder Leute abhing. In einigen Häusern hatte es schon Debatten gegeben, ob man Madam Kjellerup weiterhin einladen wolle und, wenn ja – natürlich ja! – neben wen man sie bei Tisch am besten platziere, besser neben einen Schwerhörigen oder einen Prediger, der durch sein ganzes Leben und Wirken sozusagen die Verkörperung der Nächstenliebe war und, deshalb nicht zu weiterer Mildtätigkeit überredet werden durfte.
In diesen Wochen ging es um neue Kleider und Strümpfe für die Mädchen, wobei die Strümpfe fast noch wichtiger waren als die Röcke, Leibchen und Blusen, denn die sollten nun endlich von besserer Qualität sein. In den letzten Jahren waren die Strümpfe von harter isländischer Wolle gewesen, ob des geringeren Preises wegen von gestorbenen Schafen und somit voller Ungeziefer, zudem so rau, dass kaum eines der Kinder ohne wunde oder gar blutige Füße davongekommen war. Natürlich mussten diese Jungen und Mädchen Bescheidenheit lernen, aber alles hatte Grenzen, und wunde Füße konnten zu übleren Krankheiten führen. Die neuen Strümpfe sollten aus besserer Wolle gemacht werden. Ähnlich verhielt es sich mit den Schuhen, von denen viele noch aus so hartem Leder waren, dass die Kinder sich leicht daran verletzten. Immer wenn nun neue gemacht werden mussten, sollte der Schuster besseres, nämlich weicheres Leder verwenden. All das kostete.
Bei früheren Besuchen im dem großen alten Backsteinhaus am Ende des Rödingsmarktes war Augusta stets nur im Zimmer des Ökonomen oder des Schreibers gewesen. Diesmal wollte sie die Gelegenheit nutzen, das ganze Haus zu sehen, sie wollte wissen, wie die Kinder wirklich lebten. Und arbeiteten. Auch das.
Der Ökonom
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