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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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sich geändert hatten.
    Noch mehr, seit Wilhelmine ihren Kleinwarenladen nach dem Tod ihres Mannes allein weiterführte, zusammen mit den Handarbeiten, die sie in jeder freien Minute anfertigte, der Stickerei und Häkelei, ernährte ihre Arbeit sie selbst und ihr einziges Kind. Dass sie das Leben und ihre Geschäfte allein bewältigte, gab ihr keine besondere Befriedigung, das war ihr selbstverständlich, ihr Stolz galt einzig ihrem Sohn. Moritz war für seine zwölf Jahre groß und kräftig, wie seine Mutter von ruhigem, strebsamem Gemüt, zudem klug genug für die Lateinschule, das ehrwürdige Johanneum. Der Besuch war für den Sohn einer in so bescheidenen Verhältnissen lebenden Witwe durch einen Freiplatz möglich. Zum Glück seiner Mutter vergaß der Junge nie, durch unermüdlichen Fleiß und Gehorsam seinen Dank zu zeigen.
    «Es heißt», fuhr Wilhelmine fort, «man hat eines der Mädchen der Paulis aus der Alster gezogen. Aus dem Eis. Das sei zuverlässig bezeugt. Und wer sonst soll es sein? Es ist eine einfache Rechnung: Wanda ist seit einigen Wochen verschwunden, wohl seit dem letzten Maskenball, die anderen Dienstboten der Paulis sind alle noch da.»
    Sie legte ihren Stickrahmen auf den Tisch, behutsam und auf ein extra zu diesem Zweck ausgebreitetes Tuch, damit der kostbare Stoff keinen Schaden nehme, stand auf, zog einen Lappen aus einem in dem großen Regal verstauten Weidenkorb und reichte ihn Janne. Ohne diesen jedes Gefühl lähmenden Kummer hätte sie gelächelt. Janne hatte nie ein Taschentuch, wahrscheinlich besaß sie keines. Wenn sie eines brauchte, benutzte sie einen Schürzenzipfel oder ihren Ärmel. Sie war eben wie ihre Nachbarn, die Leute in den Gängevierteln hielten so etwas für Getue. Oder für Luxus. Für die allermeisten von ihnen war es das.
    Als Janne das Tuch nicht nahm, hob sie wie eine fürsorgliche Mutter sanft deren Kinn, wischte die Tränen ab und drückte ihr das Tuch in die Hand. «Die Nase musst du dir schon selbst putzen», sagte sie schroff, als müsse der Moment der Zärtlichkeit ungeschehen gemacht werden, und setzte sich wieder. «Dann trink endlich deinen Tee, kalt hat er nur die halbe Wirkung. Man soll Hagebuttentee nicht verschwenden, besonders am Ende des Winters. Ein paar Holunderbeeren sind auch drin, also trink.»
    Janne leerte gehorsam ihren Becher, dann lehnte sie sich müde zurück. Sie war immer stolz auf ihre Bärennatur gewesen, auf ihre Zähigkeit. Und jetzt? Nur ein kleines Fieber, hatte sie sich zuerst gesagt, das kommt und geht und ist nicht schlimm.
    Heute Morgen war die Versuchung, einfach liegen zu bleiben und Arbeit Arbeit sein zu lassen, beinahe übermächtig gewesen. Sie war trotzdem wie an jedem Morgen noch in der Dunkelheit unter ihrer Decke hervorgekrochen, hatte die Hände an der Feuerstelle gewärmt, in der noch ein bisschen Glut unter der Asche gloste, hatte einen Brocken des von gestern übriggebliebenen, längst fest gewordenen Buchweizenbreis durch den wunden Hals hinuntergewürgt und ein paar Schlucke Dünnbier dazu getrunken. Da hatte sie sich besser gefühlt und auf den Weg gemacht.
    Als sie aus dem Gang, in dem sie wohnte, in den Berckhof eingebogen war, die Straße hinter der Jakobikirche, hatte sie den Duft frischgerösteter Kaffeebohnen gerochen, sehnsüchtig geschnuppert und sich schon von diesem Duft belebt gefühlt. Es würde schon gehen, hatte sie gedacht. Außerdem hatte sie keine Wahl.
    Wenn sie wieder zu spät kam oder diesmal gar einen ganzen Tag ausblieb, war es mit der Arbeit bei dem Tabakfabrikanten endgültig vorbei. Die Arbeit war längst nicht so anstrengend wie manche andere, die sie hatte tun müssen, seit sie ein Kind gewesen war, sie mochte sie trotzdem nicht, was mehr an dem Fabrikanten als an der öden Arbeit mit dem Tabak lag. Mit ein bisschen Glück fand sie bald wieder eine andere, am liebsten in einer der Gärtnereien, dort arbeitete sie gern, obwohl es oft schwere Plackerei war. Bis dahin musste sie froh sein, wenn sie für Hartung Tabak schneiden durfte.
    Und dann hatte Hartung sie wieder fortgeschickt. «Heute nicht», hatte er gesagt, «heute gibt es nichts zu tun.»
    Sie war den halben Tag herumgelaufen und hatte in den Gärtnereien nach Arbeit gefragt, bei den Malthus hatte man ihr immerhin welche für den April in Aussicht gestellt. Oder Mai, das hänge auch vom Wetter ab, man werde sehen. Zwischendurch hatte sie sich in St. Johannis ausgeruht, die Kirche war natürlich genauso eiskalt wie die

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