Die Schwesternschaft des Schwertes - 8
erneut. Eine Woge von Schwindel erfasste sie, und sie sah eine dritte Gestalt. Sie war dunkelhaarig und schlank und gesellte sich in einer Insel aus Licht zu Cleindori und ihr …
»Shaya!«
»Mutter!«, rief Shaya und schlang die Arme fest um Margalis Hals.
Und obwohl Margali wusste, dass Shaya sich körperlich im fernen Arilinn aufhielt, hatte sie das Gefühl, als hielte sie ihre Tochter wirklich in den Armen. »Mutter! Es ist so lange her, und wir haben uns solche Sorgen gemacht! Seit Tante Jaelle gestorben ist, haben wir nur etwas von Ferrika gehört.«
Margali schüttelte sich, und Cleindori formte mit der Kraft ihrer Gedanken aus dem Stoff der grauen Welt eine Bank. »Komm«, sagte sie und zog Margali heran, damit sie sich neben sie setzte.
»Tante …« Cleindori verwendete das Wort, das einst ›Mutters Schwester‹ ›Geehrte Frau der Generation meiner Mutter‹ und
›Freipartnerin meiner Mutter‹ bedeutet hatte. »Was ist passiert, dass du dich in diese Gefahr begeben hast? Warum hast du nach deinem Ruf nicht gewartet?«
Erst jetzt wich Margali zurück, um das Gesicht der Bewahrerin besser sehen zu können. »Ich habe euch nicht gerufen!«
Verbitterung verhärtete ihre Stimme. »Ich habe … Jaelle gerufen.«
Margali konnte Cleindori und Shaya, die zu ihren Füßen saß, nicht anschauen.
»Hast du etwa vergessen, dass deine Tochter, meine Schwester, Shaya heißt? Du hast gerufen. Wir haben es gehört und geantwortet.« Als Cleindori Margalis Blick auffing, wich sie zurück.
In den Augen ihrer Tante sah sie viel älter aus als siebzehn Jahre.
Aber schließlich war sie eine Frau, eine Bewahrerin und in Arilinn ausgebildet worden.
»Tante Margali … warum hast du keinen Kontakt mit uns aufgenommen? Warum bist du fortgeblieben? Ich weiß, dass die Schwesternschaft dich nicht daran gehindert hat.« Als Cleindori Margalis entsetzten Blick bemerkte, fuhr sie fort: »Mach dir keine Sorgen, dein Geheimnis ist sicher. Wir wissen nur wenig. Aber Ferrika hat uns etwas über die Schwesternschaft erzählt.« Und als fiele es ihr erst jetzt ein, fügte sie hinzu: »Es ist nicht genug, um es an jene weiterzugeben, die dir schaden könnten.«
Nun kam Margalis Prüfung. Nicht erst in zehn Tagen oder in Monaten. Nein, jetzt! Ihr Mund öffnete und schloss sich lautlos. Sie legte die Hände auf ihre Oberarme. Es wäre ihr fast lieber gewesen, die Finsternis hätte sie erstickt. Und doch war Cleindori hier, voller Liebe, Respekt und Stärke. Und … ja, sie musste es zugeben, sie hatte auch viel von Jaelle.
Margali sackte nach vorn und hauchte: »Ich hatte Angst.« Sie streckte die Arme aus, drückte Cleindori fest an sich, warf Shaya einen verlegenen Blick zu und sprach weiter. »Ich war so wütend, weil Jaelle nicht mehr da ist. Es hat mir so weh getan. Wäre doch nur ich an ihrer Stelle gestorben. Ich hätte ihren Tod verhindern müssen. Wenn die Klippe nicht gewesen wäre … die große Höhe …
hätte ich sie retten können. Sie war mein Leben. Ohne sie war mir, als sei ich verstümmelt.«
Sie saßen eine ganze Weile schweigend da und weinten erleichtert vor sich hin.
Schließlich sagte Cleindori leise: »Auch ich habe geweint, als ich vom Tod meiner Mutter erfuhr. Ich habe vor Schmerz und Enttäuschung geweint und war zugleich verärgert, weil sie mich verlassen hatte. Dann haben Vater, Ellemir und die anderen mich an ihre Talente erinnert, an ihr Lachen und ihre Fröhlichkeit, an ihre Sturheit, an ihre Liebe für dich und mich und daran, dass sie mir das Leben geschenkt hat. Sie ist nun fort, aber wir sind da, um weiterzumachen.«
Margali schaute die Kindfrau verwundert an.
»Seit zehn Jahren schmerzt mich ihr Tod nicht mehr, Margali. Sie hätte es so gewollt. Das weißt du doch. Ich muss arbeiten. Du musst arbeiten. Lass Jaelle ihren eigenen Weg nehmen.«
Margalis Geist echote: »Keine Schwester kann einer anderen den Weg abnehmen …«
Cleindori wich ein Stück von Margali zurück, um zu sehen, welche Wirkung ihre Worte hatten. Und in die herrschende Stille hinein bat Shaya mit dunklen, von Tränen erfüllten Augen: »Mutter, komm bitte nach Hause.«
»Ja, Shaya, meine Kleine«, sagte Margali zurückhaltend.
»Ja, es ist Zeit.« Sie stand auf und schaute in die Ferne, als dächte sie nach, als suche sie nach etwas.
Das Zittern begann mit einer winzigen Gänsehaut und einem Kitzeln, das die Haare auf ihren Armen und Beinen aufrichtete.
Dann schlotterten ihre Glieder und sie
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