Die Schwesternschaft des Schwertes - 8
ihm offenbar nicht, sich geirrt zu haben. »Ihr habt dem Pater Abt gesagt, der Pass wäre blockiert. Er hat es Euch geglaubt - und Ihr hattet Recht.«
»Das stimmt«, sagte Linnea und empfand ein irrationales Bedürfnis, die Gefühle des Knaben zu schonen und ihm zu helfen, seine Würde zu bewahren - als brauche dieser selbstbeherrschte kleine Comyn-Fürst überhaupt Hilfe in dieser Richtung. »Ich kann mir zwar vorstellen, dass Weitsicht dieser Art den Eindruck von Laran hervorrufen kann, aber in Wahrheit basiert meine Kenntnis auf der jahrelangen Beobachtung des Wetters in dieser Gegend. Ich bin hier aufgewachsen, und wenn der Himmel eine bestimmte Farbe annimmt, kann ich voraussagen, dass ein Sturm im Anmarsch ist und wann er hier ankommt. Und der Pater Abt ist zweifellos schon so lange in Nevarsin, dass er einige dieser Anzeichen von selbst erkennt. Deswegen hat er sich auf mein Wort verlassen.«
Dyan lächelte matt. »Außerdem«, sagte er dann, »wärt Ihr, wenn Ihr Laran hättet, keine Entsagende. Dann hättet Ihr stattdessen in einen Turm gehen können.«
»Meint Ihr, damit mir dort der gleiche Schutz vor den Männern in meinem Leben gewährt wird?«, fragte Linnea ironisch.
»Ihr bräuchtet gar keinen Schutz vor den Männern in Eurem Leben«, sagte Dyan steif. »Sie sind doch dazu da, Euch zu beschützen.«
Es wäre sicher grausam, dachte Linnea, in diesem Zusammenhang Dyans Vater zu erwähnen, aber allmählich entwickelte sie ein lebhaftes Interesse an den Gedankengängen des Knaben. Und da sie ohnehin während der Reise mehrere Tage miteinander verbringen würden, war es vielleicht wichtig, wenn sie erfuhr, wie weit sie ihm vertrauen konnte. Deswegen beschränkte sie ihre Antwort auf ein einfaches »Wieso?«
»Weil Männer stärker sind als Frauen.«
»Und Ihr seid der Meinung, dass es die Pflicht der Starken ist, die Schwachen zu beschützen?«
»Natürlich«, erwiderte Dyan sachlich. »Wozu nützt einem Kraft, wenn man sie nicht einsetzt?«
»Es soll aber einige Menschen geben, die der Meinung sind, dass ihre Kraft nur dazu da ist, sich das zu holen, was sie haben wollen«, sagte Linnea.
»Nein.« Dyan schüttelte trotzig den Kopf. »Ich bin zwar kein Cristoforo, aber mir ist aufgefallen, dass Kraft und Bürden zueinander gehören. Wenn man seine Kraft ausschließlich für ichbezogene Genugtuung verschwendet, statt jene Aufgaben zu erledigen, die einem seine Stellung im Leben auferlegt, wird man im besten Fall ein bemitleidenswertes Objekt, wenn nicht gar ein gering geschätztes.«
Allem Anschein nach, dachte Linnea, denkt er an seinen Vater, aber er könnte ebenso gut den meinen beschreiben. Tja, wenigstens wirkt er nicht so, als würde er den Geschmack und die Schwächen seines Vaters teilen, und er beschwert sich auch nicht über den Weg oder das Tempo, das wir vorlegen. Trotzdem glaube ich, ist es angebracht, dass wir über Nacht eine Rast einlegen.
In den nächsten eineinhalb Tag kamen sie gut voran. Die Reise blieb ereignislos, bis sie an die Brücke kamen, welche über die Kluft etwa eine halbe Meile von Burg Ardais entfernt führte. Denn dort endete ihr Glück. Die Brücke war verschwunden und offenbar unter zu viel Gewicht zusammengebrochen.
Linnea zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen. Nicht deswegen, weil sie glaubte, Dyan kenne ihn nicht, sondern weil sie Skrupel hatte, junge und angeblich unschuldige Menschen zu verderben.
Dyan musterte die Kluft mit finsterer Miene. »Die verflixte Brücke bricht zweimal im Jahr zusammen«, knurrte er. »Aber muss es ausgerechnet heute sein?«
Er saß schweigend einige Minuten lang auf seinem Chervine, kaute auf seiner Unterlippe und wirkte blass. Dann seufzte er. »Habt Ihr Höhenangst, Mestra?«, fragte er.
Linnea, drauf und dran, ihm eine schnippische Antwort über den Widerspruch zu geben, in den Bergen zu leben und sich vor Höhen zu fürchten, warf einen zweiten Blick auf sein Gesicht. Höhen machten ihr zwar nicht viel aus, aber sie hatte den starken Verdacht, dass man von ihrem Gefährten nicht das Gleiche behaupten konnte.
»Wenn es sein muss, werde ich damit fertig«, erwiderte sie.
»Warum? Kennt Ihr eine andere Möglichkeit, die Kluft zu umgehen?«
»Dort drüben, ein Stückchen weiter rauf, liegt ein alter umgestürzter Baum.« Dyan deutete nach rechts. »Die Kinder des Pächters gehen über ihn nach drüben - als Mutprobe.« Seine Stimmlage deutete an, dass er dies nicht für einen Sport hielt, an dem er bereitwillig
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