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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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paar Sekunden lang an, und Kirill befürchtete bereits, dass er ihm diesen Gefallen abschlagen würde. Sie sahen sich gegenseitig an, ohne sich zu rühren.
    Dann erhob sich Yuri, knöpfte die Jacke zu und ging wortlos zur Tür.
    Der Sibirier warf noch einen Blick auf den Entwurf und versuchte, sich jedes Symbol einzuprägen. Wenn es ein Geheimcode war, und daran zweifelte er nicht, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder, der alte Kasache wollte ihm nicht erklären, wie er zu deuten war, oder er hatte tatsächlich keine Ahnung, was er da gemalt hatte.
    Glinka gab ihm ein Zeichen, den Entwurf zu nehmen und ihm zu folgen. Vor der Tür wartete seine Assistentin mit dem Koffer.
    Der Sibirier faltete den Entwurf sorgfältig zusammen und steckte ihn, zusammen mit dem Plakat, unter die Jacke. Als er neben Yuri trat, legte ihm dieser eine Hand auf den Arm und gab ihm den Koffer zurück. »Denk dran, Rotchko: Du hast jetzt eine Ehrenschuld beim Steppenadler … etwas, das man nicht mit Geld bezahlt. Und grüß mir Derzhavin.«
    Mit diesen Worten verabschiedete er sich.
    Die Assistentin sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Mister Parnok wartet draußen auf Sie. Er sieht nur ein wenig mitgenommen aus.«

44
    Lambay Island
Samstag, 1. Januar, 12.41 Uhr
    Â»Humpty Dumpty sat on a wall, Humpty Dumpty had a great fall. All the King’s horses and all the King’s men couldn’t put Humpty together again!« 2
    Die kleine Maeve Sherman brach in Gelächter aus. Sie hörte immer gern zu, wenn ihr Bruder Paddy Nursery Rhymes aufsagte. »Noch mal, Huppy Duppy!«, bettelte sie.
    Â»Nein«, antwortete Paddy und sah zum Horizont. Von der Höhe des Kaps, auf dem sie standen, konnte man die Küste erkennen. Möwenschreie erfüllten die Luft, und es kam Wind auf.
    Maeve trat mit kleinen Schritten neben den älteren Bruder. Sie war in einen Mantel gehüllt, der für ihre vier Jahre ziemlich groß wirkte, dazu trug sie eine handgestrickte Mütze aus weißer, grüner und orangefarbener Wolle. »Dann erzähl von den Piraten.«
    Â»Na gut«, gab Paddy nach und nahm sie bei der Hand. »Aber jetzt gehen wir nach Hause. Es ist Zeit fürs Mittagessen.«
    Das Anwesen der Barings war das Ergebnis verschiedener, über Jahrhunderte erfolgter baulicher Eingriffe. Der Hauptsitz war zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach den Plänen von Sir Edwin Lutyens − dem wohl bekanntesten britischen Architekten, der auch Neu-Delhi entworfen hatte − umgebaut worden. Daneben lagen zwei große Hofgebäude, in denen die Inselbewohner lebten. Alle, außer dem alten Tim McCarthy, der es vorzog, allein im White House im Hafen zu wohnen, wo im Sommer auch manchmal Gäste der Gutsbesitzer untergebracht wurden.
    Lambay Island bot seinen wenigen Bewohnern einen begrenzten Komfort. 2001, dem Geburtsjahr von Paddy, hatte man einen 25-kW-Windgenerator installiert. Er lieferte gerade genug Strom für das Nötigste. Gekocht wurde mit Gasflaschen, die man, ebenso wie die Lebensmittel, vom Festland herbeischaffte, vorausgesetzt die Meeresverhältnisse ließen es zu. Andernfalls nutzte man die Ressourcen der Insel, die bis zu einem gewissen Grad autark war. In der wärmeren Jahreszeit baute man Obst und Gemüse an und ließ das Vieh weiden, Jill, die Milchkuh, sowie ein paar Schafe.
    Während die Kinder vom Kap hinunter in Richtung Anwesen liefen, zog Maeve ihren Bruder am Arm: »Erzählst du mir jetzt von den Piraten oder nicht?«
    Â»Oh Mann, das hab ich doch schon tausend Mal erzählt«, schnaubte Paddy.
    Â»Bitte, bitte, nochmal. Nur das, wo sie Schifferbruch machen.«
    Â»Schiffbruch!«
    Paddy schnaubte erneut, dann blieb er stehen. Er fuchtelte mit den Armen vor dem Gesicht der Schwester herum, wie ein Magier, der einen Zauber ausführt, und begann dann mit theatralischer Stimme: »Also, als es noch Piraten gab, waren sie froh über jede Nacht, in der es stürmte und regnete!«
    Â»Oh jaaa«, freute sich Maeve.
    Â»In solchen Nächten gingen die Piraten mit Laternen zu den Klippen … siehst du, genau dort unten … und bewegten sich, sodass es aussah wie Boote auf dem Wasser.«
    Â»Oh«, rief Maeve.
    Paddy ahmte mit den Händen die Wellenbewegungen und das Aufleuchten der Laternen nach. Dann sagte er mit gesenkter Stimme: »So schlugen die mit Gold, Äpfeln und Bonbons beladenen Schiffe, die

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