Die Schwesternschaft
die Sekunden zu zählen. Bei dreiundvierzig kam Maud mit der Kleinen zurück. Alle atmeten erleichtert auf.
Die zweite Frau gab dem Mann mit dem Gewehr ein Zeichen und verschwand mit den beiden andern.
»Dass mir niemand den Helden spielt«, warnte sie zum Abschied.
Maeve zog ihre Mutter am Ãrmel. »Mama«, flüsterte sie aufgeregt. »Sind das Piraten?«
2 »Humpty Dumpty saà auf der Mauer, Humpty Dumpty fiel hinab. Nicht einmal alle Pferde und alle Männer des Königs konnten Humpty Dumpty wieder zusammenfügen.«
45
London, Madame Iv Lilys Büro
Samstag, 1. Januar, 14.08 Uhr
Rayes Unterricht war derart merkwürdig, dass Victoria von Anfang an nur den Kopf schüttelte.
»Zier dich nicht so«, mahnte die Lehrerin, die zu diesem Anlass ein regenbogenfarbenes Kleid und dazu eine lange Perlenkette trug. »Auf diese Weise werden wir direkt vor Ort sehen, welche Fortschritte du gemacht hast.«
»Ich gehe nicht wie eine Pennerin gekleidet in die U-Bahn«, protestierte Victoria.
Ungerührt legte Raye einen alten, mit Aufklebern übersäten Koffer auf den Schreibtisch und begann, an dem Schnappschloss herumzuhantieren. Victoria beobachtete sie schweigend. Als der Koffer aufsprang, traute sie ihren Augen nicht. Raye hielt eine rote Spitzen-Corsage mit Schnürbändern und Strumpfhaltern hoch. Beim bloÃen Gedanken, sich in einem derart obszönen Kleidungsstück sehen zu lassen, erschauderte sie.
Aber zum Glück hatte Raye sich geirrt. »Nein, das ist für eine andere Lektion gedacht.«
Victoria wirkte erleichtert.
»Da haben wirâs ja!«, rief Raye schlieÃlich.
Vorsichtig legte sie einen wadenlangen roten Schottenrock, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, auf den Schreibtisch, und dazu ein Paar schwarze Wollstrümpfe, zwei Springerstiefel mit abgelaufenen Sohlen, einen zerlöcherten roten Pullover und eine Schottenmütze mit ausgefranster Bommel.
»Das Zeug soll ich anziehen?«, brauste Victoria auf. »Damit sehe ich aus wie die verarmte Enkeltochter von William Wallace!«
Raye setzte eine ernste Miene auf. »WeiÃt du, wer Joshua Bell ist?«, fragte sie.
Victoria dachte einen Augenblick lang nach. Den Namen hatte sie schon einmal gehört, aber momentan kam sie nicht darauf, wo und wann.
»Du musst noch viel lernen, kleine Hexe.«
Victoria kauerte wortlos auf ihrem Stuhl, und Raye nutzte die Gelegenheit, um den Koffer zu schlieÃen. Dann nahm sie auf dem Sessel Platz und drehte sich zur Glasfront um. Victoria sah nun nur noch eine weiÃe Rückenlehne.
»Ein Mann steht mit seiner Violine in der Washingtoner U-Bahn und spielt Bach«, begann Raye zu erzählen. »Er spielt ununterbrochen fast eine Stunde lang, und keiner beachtet ihn. Es ist mitten in der StoÃzeit, Tausende von Menschen laufen in Gedanken an die Arbeit, die Kinder, den Kredit durch die Station ⦠Dort steht ein Mann, den geöffneten Geigenkasten zu seinen FüÃen, der klassische Stücke spielt, um ein bisschen Kleingeld zu sammeln. Auf den ersten Blick ist er bloà einer, der â wie viele andere auch â versucht, sich über Wasser zu halten, indem er das tut, was er am besten kann, Violine spielen.«
Victoria befürchtete, dass Rayes Erzählung in einer Predigt über den Wert der Kunst enden würde, aber sie wagte es nicht, sie zu unterbrechen.
»Hin und wieder bleibt einer stehen«, fuhr die Lehrerin fort, »kramt in den Taschen, lauscht einige Sekunden und wirft dann ein paar Münzen in den Koffer. Es ist keine Zeit, länger zu bleiben, alle müssen weiter ⦠auch wenn diese Musik etwas Merkwürdiges an sich hat. Viele der Vorübergehenden behalten den Klang, den sie soeben vernommen haben, im Ohr. Manche beginnen sogar zu pfeifen. Der Mann hört nicht auf zu spielen, und die Melodien dringen durch die langen Gänge bis zu den Gleisen. Dann kommt ein Kind an der Hand seiner Mutter. Es ist etwa drei Jahre alt, nicht älter. Es bleibt stehen und hört dem Violinisten zu, aber die Mutter hat es eilig und zerrt es weiter, ohne die Musik zu beachten ⦠Der Violinist bemerkt das Kind und dreht sich zu ihm um, ohne sein Spiel zu unterbrechen. Andere Kinder kommen vorbei, die sich genauso verhalten. Am Ende geschieht ein Wunder. Ein paar Erwachsene bleiben stehen. Sie sind von der Musik gefesselt und vergessen für einen Augenblick ihre Probleme,
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