Die Schwesternschaft
verpassen ihren Zug ⦠später kommt schlieÃlich noch einer. Es bildet sich eine kleine Menge, die sich diesen magischen Augenblick nicht entgehen lassen will. Die Zuschauer wissen nicht, dass vor ihnen Joshua Bell steht, einer der gröÃten Violinisten der Welt, der hier für ein bisschen Kleingeld mit seiner vier Millionen Dollar teuren Stradivari eines der komplexesten Stücke der Musikgeschichte spielt.«
Raye drehte sich mit einer einzigen, flieÃenden Bewegung auf dem Sessel um, und Victoria bemerkte, dass ihre Augen glänzten. »Was wollte er damit zeigen?«
Raye erhob sich und strich mit der Hand über die Kleidungsstücke, die sie auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. »Die Frage, die sich der Künstler gestellt hatte, war ganz einfach: Lässt sich in einem hektischen Umfeld, zu unpassender Stunde die Schönheit wahrnehmen?«
Victoria musste an diesen Mann denken. Nun begriff sie.
Sie stand auf und nahm den zerlöcherten Pullover in die Hand. Er war wirklich scheuÃlich. In Kombination mit dem unansehnlichen Rock würde sie aussehen wie eine Vogelscheuche.
In diesem Augenblick öffnete sich die Bürotür, und Madame Iv betrat den Raum, einen bordeauxfarbenen Ledertrolley hinter sich herziehend. Sie sah wie immer perfekt aus, kein Härchen, das nicht richtig saÃ, kein bisschen verwischtes Rouge. Als käme sie gerade von einer Schönheitsfarm und sei bereit für die nächste lange Promotion-Tour an der Seite eines ihrer berühmten Schützlinge.
Stattdessen kehrte sie von einer Reise zurück, die sehr schmerzlich gewesen sein musste, denn eine ihrer liebsten Schülerinnen war gestorben, und Madame war zur Beerdigung gereist. Ganz Russland weinte über diesen Verlust, und wahrscheinlich hatte auch sie es getan, obwohl sie es nicht zeigte.
»Was macht ihr gerade?«, fragte Iv in sachlichem Ton.
Raye lächelte ihr zu und lief ihr entgegen wie ein Kind, aber Iv gebot ihr mit einer eleganten Handbewegung Einhalt.
»Wir bereiten uns auf die U-Bahn-Prüfung vor!«, verkündete Raye enthusiastisch.
Madame wandte sich an Victoria, die nur ein verlegenes Lächeln anzudeuten vermochte.
»Ah«, nickte Iv.
»Sie hat sich zum ersten Mal in Einklang gebracht!«, erklärte Raye strahlend.
Madame steuerte auf das Privatbüro zu, ohne ihre Schülerin auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen.
Nachdem sie den Trolley abgestellt hatte, kehrte sie in den groÃen Raum zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Sie betrachtete die Kleidungsstücke auf der Glasplatte, ohne sie auch nur zu berühren, als ob sie sich durch den bloÃen Kontakt mit ihnen eine Krankheit einfangen könnte. »Dann hast du also Fortschritte gemacht?«, fragte sie schlieÃlich an Victoria gewandt.
»Ich habe mich ⦠wie Raye es nennt ⦠zum ersten Mal in Einklang gebracht.«
»Und wie war es?«, erkundigte sich Madame mit dem Tonfall eines Arztes, der einen Patienten besucht.
»Seltsam«, erwiderte die junge Frau, unfähig, ihre Gefühle anders zu beschreiben.
Madame Iv wandte sich an Raye: »Du hast sehr gute Arbeit geleistet. Wirklich. Aber du musst jetzt sofort zurück nach Dublin.«
Victoria sah Raye an. Sie schien das aufrichtig zu bedauern, aber sie nickte ernst.
»Raye«, fuhr Iv mit sanfter Stimme fort, »es wartet eine äuÃerst wichtige Aufgabe auf dich. Nur du kannst sie übernehmen, und du musst dir dabei von deinem Mann helfen lassen.«
Victoria stellte sich einen Augenblick lang vor, was für ein Typ Rayes Mann wohl sein mochte, aber dann fragte sie sich, ob diese äuÃerst wichtige Aufgabe vielleicht darin bestand, eine andere, vielversprechendere Schülerin als sie zu unterrichten. Sie spürte, wie ihr die Eifersucht einen Stich versetzte, und Ivs folgende Worte verstärkten dieses Gefühl noch.
»Was dich betrifft, Victoria«, sagte Madame, »so brauche ich ein bisschen Zeit, um meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Wir müssen den Unterricht eine Weile lang unterbrechen ⦠durch diese unvorhergesehene Reise ist mir ein riesiger Berg Arbeit entstanden.«
»Ich gehe dann mal â¦Â«, verabschiedete sich Raye und warf Victoria einen bedauernden Blick zu.
Iv nickte nur.
Raye nahm die Kleidungsstücke vom Schreibtisch und schmiss sie in den Koffer. Als sie ihn verschlossen hatte, tauschte sie einen
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