Die Schwesternschaft
rasch über das Tal senkte.
Offenbar interessierte sich niemand für sie. Ein Junge tauchte am StraÃenrand auf und gestikulierte vor den Scheinwerfern, ein anderer versuchte eine Weile lang, den Rettungswagen zu verfolgen. Dann waren sie wieder allein auf dem leicht abschüssigen Schotterweg zum Krankenhaus, das man in der Ferne bereits erkennen konnte: Es war hell erleuchtet.
Kaum hatten sie das Eingangstor passiert, bemerkte Kirill, dass etwas nicht stimmte. Ãberall standen Autos, und es herrschte spürbare Aufregung. Eine Gruppe von Männern hielt einen Alten fest und versuchte ihn dazu zu bewegen, wieder ins Auto zu steigen, während dieser auf Paschtunisch ununterbrochen zwei Ãrzte in weiÃen Kitteln beschimpfte, die trotz der Kälte drauÃen vor dem Hauptgebäude standen.
Nach den Problemen bei der Landung nun also weitere Unannehmlichkeiten. Nur hatte Kirill diesmal nicht schon vorab einen Notfallplan.
Taras sah ihn fragend an, und der Sibirier gab ihm ein Zeichen, als wollte er sagen: Lass mich nur machen.
»Geh du ans Steuer«, befahl er und schaltete den Motor aus.
Er stellte das Martinshorn ab, stieg aus dem Wagen und eilte zum Eingang, wobei er sich absolut gleichgültig gegenüber dem Geschehen ringsum gab.
Einer der beiden Männer in Weià trat ihm entgegen und musterte ihn misstrauisch. »Seid ihr mit dem Hubschrauber gekommen?«, fragte er auf Englisch. Dann bemerkte er den Tarnanzug unter dem Kittel, und seine Stimme bekam einen anderen Ton: »Wer seid ihr? Was transportiert ihr?«
Der Sibirier reichte ihm die Hand: »Ich bin Kirill Rotchko.«
Der Arzt schüttelte sie, aber anstatt sich vorzustellen, drängte er: »Was wollt ihr hier?«
Kirill sah ihm in die Augen und zögerte ein paar Sekunden, bevor er antwortete: »Ich bin wegen Nadja Derzhavin gekommen.«
Der Arzt verzog das Gesicht: »Ja. Ich weià Bescheid.«
Er wandte sich um und betrat ohne ein weiteres Wort das Gebäude.
Kirill folgte ihm schweigend durch den Flur bis zu einem Schild, das auf Englisch und Paschtunisch auf die Entbindungsstation verwies.
In den warmen, gut beleuchteten Räumen befanden sich drei afghanische Frauen. Sie kauerten in der klassischen Stillposition auf den Betten und versorgten ihre Neugeborenen. Ihre Gesichter waren entblöÃt, aber sobald sie die Männer eintreten sahen, verhüllten sie sie mit ihren Schleiern. Kirill war sicher, dass sie die Burkas, die sowohl im Pandschir-Tal als auch in Kabul allgegenwärtig waren, in irgendeinem Schrank verstaut hatten und wieder anlegen würden, sobald sie das Krankenhaus verlieÃen. Offensichtlich waren sie im Krankenhaus nicht zugelassen. Er riss sich zusammen und versuchte, keine der Frauen anzusehen, eine schwierige Aufgabe für jemanden wie ihn, der es gewohnt war, jedes Detail mit ein paar raschen Blicken zu erfassen.
Nachdem sie die Station durchquert hatten, führte der Arzt ihn in ein Büro, schaltete ein schwaches Lämpchen ein und bat ihn zu warten. In einer Zimmerecke stand ein kleiner, geschmückter Weihnachtsbaum.
Eine Minute später ging die Tür auf, und Nadja trat ein.
Kirill und Nadja pflegten seit jeher einen distanzierten Umgang. Für ihn war sie die »Tochter des Chefs«, und seinem persönlichen, äuÃerst strengen Verhaltenskodex entsprechend bedeutete das: wenige Fragen, keine Antworten.
In Wahrheit schätzte Kirill Nadja sehr, eine Wertschätzung, die weit über seine äuÃerst einträgliche Aufgabe als Leibwächter der Familie Derzhavin hinausging. Nadja gefiel ihm. Denn im Gegensatz zu all den verwöhnten Sprösslingen des neuen Russlands zog sie es vor, sich an einem der entlegensten Flecken Asiens zu engagieren, anstatt zwischen Sankt Petersburg, Moskau, Paris und New York hin und her zu jetten und eine Party nach der anderen zu feiern. Keine Markenkleidung, keine italienischen Handtäschchen, keine oberflächlichen Freunde, kein Kokain. Für die meisten Leute etwas ganz Normales, aber nicht so einfach für jemanden, dessen Vater jeden Monat dreiÃig Millionen Rubel für unvorhergesehene Ausgaben auf dem Konto zur Verfügung hat.
Ãber das Bild, das Nadja von ihm hatte, bestand für Kirill kein Zweifel. Er war der getreue Handlanger des Vaters. Ein kühler, gefährlicher Mensch, der in ihren Augen vermutlich in alle schmutzigen Geschäfte Gavrils verwickelt war. Und
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