Die Schwesternschaft
deshalb jemand, dem man mit Vorsicht begegnen und den man stets beobachten musste.
Als Nadja ihn, nach einem Augenblick der Befangenheit, umarmte, war er daher wie vom Donner gerührt. Ihm fiel sofort ihre erste Begegnung ein, als er in die Villa ihres Vaters eingedrungen war und sie im Dunkeln an die Hand genommen hatte. Sie hatte ihm vertraut, als habe sie instinktiv gespürt, dass er ihr nichts Böses wollte, und er hatte ihr vertraut, als habe er gewusst, dass sie keinen Alarm schlagen würde.
»Wie geht es Papa?«, fragte Nadja, während sie sich aus der Umarmung löste.
Nach der stundenlangen Reise, die er hinter sich hatte, dem Umsteigen vom Flugzeug in den Hubschrauber, der Anspannung beim Ãberfliegen eines Kriegsgebietes und schlieÃlich der Fahrt mit dem Rettungswagen erschien Kirill diese Frage beinahe absurd, doch dann wurde ihm klar, dass sie vollkommen natürlich war. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Er fühlte sich unwohl und konnte es kaum erwarten, Nadja zum Hubschrauber zu bringen, um so schnell wie möglich zurückzukehren. Nach Hause.
Deshalb blieb er wie immer kühl: »Dein Vater erwartet dich.«
Nadja sah ihn schweigend an, dann senkte sie den Blick. »Ich bin bereit, ich habe schon eine Tasche mit ein paar Sachen gepackt«, sagte sie und deutete auf einen kleinen Militärrucksack.
Kirill hob ihn auf, er war sehr leicht.
»Ich hoffe, möglichst bald wieder zurückzukehren«, fühlte sich die junge Frau genötigt zu erklären. »Ich werde hier in Anabah gebraucht.«
»Du wirst auch in Moskau gebraucht, Nadja«, erwiderte Kirill. Diesmal, das spürte er, war die Kälte aus seiner Stimme verschwunden.
Nadja nickte.
»Beeilen wir uns«, sagte er, während er die Tür öffnete.
Nadja zog eine schwere blaue Sportjacke über und lief dann mit ihm durch die langen Flure des Gebäudekomplexes bis zu den Unterkünften für das Personal. »Ich muss mich noch von jemandem verabschieden«, erklärte sie.
Sie öffnete eine Tür und blieb einen Moment lang mit bedauernder Miene auf der Schwelle stehen. »Flavio! Flavio!«, rief sie den Flur hinab.
Sie lauschten schweigend, aber niemand antwortete.
»Wir müssen gehen, Nadja. Mit jeder Minute, die wir verstreichen lassen, erhöht sich das Risiko, dass der Hubschrauber angegriffen wird.«
Die junge Frau nickte ernst.
Sie liefen zurück zum Eingang des Krankenhauses. Der Arzt, der Kirill in Empfang genommen hatte, war verschwunden. Nur der zweite Arzt war noch dort, zusammen mit einem hochgewachsenen, westlich aussehenden Mann in Zivilkleidung. Ein schmaler, magerer Typ, der ein kariertes Wollhemd über einem schwarzen Rollkragenpullover trug. Sie hatten schon wieder eine Auseinandersetzung mit dem Alten, den Kirill bei der Ankunft gesehen hatte. Zwei junge Paschtunen versuchten vergeblich, ihn zurückzuhalten.
Nadja blieb in einigen Metern Entfernung stehen. Sie wirkte verängstigt. Auch Kirill hielt inne, allerdings erst, nachdem er sie überholt hatte, um sie bei drohender Gefahr mit seinem Körper schützen zu können. Es war ein automatischer Reflex.
Der Mann mit dem karierten Hemd wirkte angespannt und nervös, der alte Paschtune deutete auf ihn und beschimpfte ihn.
»Was geht hier vor sich?«, murmelte Kirill an Nadja gewandt.
Sie schüttelte den Kopf: »Eine zu lange Geschichte, um sie zu erklären.« Dann lief sie einige Schritte auf den Mann mit dem karierten Hemd zu. »Flavio â¦Â«
Der Mann wandte sich um.
Alles geschah in einem Augenblick.
Der Alte befreite sich von den beiden, die ihn zurückgehalten hatten, zückte plötzlich ein Messer und stürzte sich auf Flavio, aber Nadja konnte ihn mit einem Ruck beiseiteziehen und stand nun zwischen den beiden.
Der Alte fuchtelte drohend mit dem Messer, Nadja hob instinktiv einen Arm, um ihren Kopf zu schützen, dann hörte man einen Schuss, das Messer fiel zu Boden, und der Alte begann zu schreien, wobei er sich die blutende Hand hielt. Alle drehten sich zu Kirill um.
Der stürzte vor, noch immer die Pistole umklammert, packte mit der Linken Nadjas rechte Hand und rannte durch die Eingangstür, bevor auch nur irgendjemand begreifen konnte, was vor sich ging.
Wieder Hand in Hand.
Nach wenigen Schritten hatten sie den Rettungswagen erreicht. Nadja war Kirill ohne Widerstand gefolgt, wie in Trance und ohne sich
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