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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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ihrer Zeit am Moskauer Kunsttheater hatte sich Lena unter der strengen Anleitung von Madame Yana gründlich mit dieser Sprache auseinandergesetzt. Wie weit sie inzwischen gekommen war!
    Sie hatte Gavril im Jahr 2000, während der Eröffnungsfeier der neuen amerikanischen Botschaft in Moskau, kennengelernt. An jenem Tag schien sich ein Kreis zu schließen, der Jahre zuvor damit begonnen hatte, dass Madame Yana die damals gerade dreizehnjährige Lena in die prunkvolle Welt der US-amerikanischen Diplomatie eingeführt hatte, in jenes alte Botschaftsgebäude, das Ronald Reagan wenig später, 1987, abreißen lassen musste. Es war von Baufirmen vor Ort errichtet worden, und man hatte entdeckt, dass es mit Abhöranlagen verseucht war.
    Damals, 2000, war Lena sechsundzwanzig Jahre alt, hatte eine Model-Karriere sowie eine Reihe von Liebesbeziehungen mit einigen der mächtigsten Persönlichkeiten des neuen Russlands hinter sich und nur ein einziges Ziel: Gavril Derzhavin, den faszinierenden Energie-Magnaten.
    Als sie an jenem Maiabend in ihrem wunderschönen cremefarbenen Valentino-Kleid den Empfangssaal betrat, hatte selbst Catherine an Gavrils Seite ihr einen langen Blick zuwerfen müssen. Obwohl sie Tausende von Kilometern entfernt von verschiedenen Lehrerinnen unterrichtet worden waren, hatten sich die beiden Schwestern sofort erkannt, wie vor ihnen bereits Marilyn und Jacqueline.
    Gavril war später allein auf sie zugegangen und hatte ihr nichts weiter zugeflüstert als: »Ich möchte, dass du diesen Ort verlässt und auf mich wartest.«
    Â»Wie lange?«, hatte sie gefragt.
    Â»Vier Jahre«, hatte seine Antwort gelautet.
    Bei ihrer zweiten Begegnung − vier Jahre später − ließ er sich wie versprochen sofort auf sie ein. Lena hatte das Herz eines Mannes erobert, das bereits einer anderen Schwester gehörte. Um nicht Gefahr zu laufen, mit genau denselben Reizen zu spielen wie Gavrils Frau, musste sie alles, was sie gelernt hatte, neu erfinden und hatte es schließlich geschafft, den ersten Platz in seinem Denken einzunehmen.
    Nun streichelte sie ihm die Wange, die sich ganz kalt anfühlte. »Was glaubst du, wer es war?«, murmelte sie nach einer Weile. »Die von Sotschi?«
    Â»Das wäre ziemlich unsinnig«, befand Gavril. »Die Mafia agiert nicht so offenkundig. Außerdem hätten sie mich vorher gewarnt.«
    Â»Und wenn genau das die Warnung war?«, beharrte Lena.
    Gavril strich sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er seine Sorgen vertreiben. Er antwortete nicht.
    Sie streichelte ihn weiter, spürte aber, dass er noch unnahbarer war als zuvor. Sein Schmerz reichte offenbar sehr tief, und das würde für sie alles viel schwieriger machen.
    Schließlich richtete Gavril sich mit einem Ruck auf und lehnte sich an die Kopfstütze. Ȇbermorgen ist die Beisetzung«, erklärte er trocken. »Ich habe Kirill losgeschickt, um Nadja zu holen. Sie kommen morgen.« Er bedachte die Geliebte mit dem ersten und einzigen Blick an diesem Abend. »Wir werden uns ein paar Tage lang nicht sehen können«, fügte er hinzu. »Die Tatsache, dass meine Frau gestorben ist, bedeutet nicht, dass du automatisch ihren Platz einnimmst.«
    Damit hatte sie gerechnet. Gavril wollte nicht, dass sie seiner Tochter Nadja begegnete, die in dieser Krise für sie am schwierigsten zu kontrollieren war. Die junge Frau hätte sie als Nachfolgerin der Mutter nicht akzeptiert und ihre Anwesenheit bei der Beerdigung als Affront gewertet. Aber Lena sagte sich, dass sie in jedem Fall daran teilnehmen würde, schon allein, um allen zu zeigen, welchen Platz sie in Zukunft an der Seite von Gavril Derzhavin einnehmen würde. Es war riskant, aber notwendig.
    Fürs Erste beschloss sie jedoch, ihm nachzugeben. Mit langsamen, gemessenen Bewegungen setzte auch sie sich auf. Sie ordnete ihr Haar, das durch das Kissen zerdrückt war, und sah noch einmal zu Gavril, der den Blick erneut starr zur Decke gerichtet hatte.
    Das Geräusch eines Jeeps auf dem Kiesweg verriet, dass Wachpersonal unterwegs war. Lena musste daran denken, dass sie sich beim Betreten der Villa erst seit wenigen Monaten keiner Kontrolle mehr unterziehen musste. Ein Privileg, das Kirill und Nadja vorbehalten war. Wie alle mächtigen Männer war auch Gavril paranoid, allerdings nicht in dem Maße, dass er selbst jene verdächtigte, die in seinen Augen zur

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